Üble Übertreibungen
Warum werden alle Debatten, ob über Rassismus oder das Klima, über das Virus oder den politischen Auftrag der Kunst, sofort hysterisch zu einem Entweder-oder stilisiert, das keine Zwischentöne mehr kennen darf?
Nahezu alles, was das Leben und Denken der Menschen heute zu bestimmen scheint, wirkt übertrieben. Das trifft die Hoffnungen und Erwartungen ebenso wie die Ängste und Befürchtungen. Nach Corona, so lasen wir vor noch nicht allzu langer Zeit, wird alles anders werden. Oder nichts wird mehr so sein wie zuvor. Unter diesen apodiktischen Urteilen machen wir es nicht mehr. Die Polizei, so hören wir, ist rassistisch unterwandert und systemisch so verdorben, dass man sie am besten auf der Müllhalde entsorgt; der bescheidene Hinweis, dass man aus Einzelfällen nicht vorschnell verallgemeinernde Schlüsse ziehen sollte, gilt bereits als Kollaboration mit dem Feind. Wer differenziert, abwägt, nach Angemessenheit strebt, gilt als Verharmloser, Verräter oder Vertreter des Bösen in der Gesellschaft. er übertreibt, kennt nur seine Sache. Das führt dazu, dass jede Saison ihr Thema hat, bei dem es um Sein oder Nichtsein geht. War vor einem Jahr noch klar, dass das Wohl und Wehe aller davon abhängt, wie wir es mit Greta Thunberg und dem Klimawandel halten, entscheidet sich in diesem Sommer das Schicksal der Gesellschaft offenbar an der Frage, wie sie mit den Gespenstern der Kolonialgeschichte fertig wird.
Wenn es um alles geht, ist auch alles erlaubt. Auf das
WFehlverhalten von Staatsorganen mit rechtsstaatlichen Mitteln zu reagieren, gilt mittlerweile als anrüchig. Krawalle, Ausschreitungen, Attacken und Plünderungen müssen es schon sein, um auf vermeintliches Unrecht aufmerksam zu machen. atürlich können Übertreibungen sinnvoll und legitim sein. Um etwas zu erkennen, müssen Begriffe geschärft, Gedanken zugespitzt, Konturen durch Überzeichnung verdeutlicht werden. Als kunstvoll eingesetzte rhetorische Figur mag die Übertreibung manches Vergnügen bereiten, und nicht zuletzt kommen die Satire und die Karikatur nicht ohne sie aus. as Unangenehme an den Übertreibungen der aktuellen Diskurse liegt in dem Anspruch, damit eine politische Wahrheit zu verkünden. Das Hypertrophe wird mit der Wirklichkeit, die eigene Befindlichkeit mit dem Weltganzen verwechselt. Jede individuelle oder kollektive Besonderheit, jede gefühlte Benachteiligung, jede Idiosynkrasie kann mittlerweile zu einer zentralen Frage der Gesellschaft stilisiert werden. arum ist das so? Warum werden alle Debatten, ob über den Rassismus oder das Klima, über das Virus oder den politischen Auftrag der Kunst, sofort hysterisch zu einem Entweder-oder stilisiert, das keine Zwischentöne mehr kennen darf ? Je mehr
NDWvon Diversität die Rede ist, desto einförmiger wird das Denken. Ist dies lediglich den getwitterten Erregungskurven geschuldet, der Logik einer Kommunikationstechnologie, die nur mehr zwischen Verehrung und Verachtung unterscheiden kann? Mag sein. Womöglich drückt sich in dieser Übertreibungssucht aber eine Krise unseres Selbstverständnisses aus.
Der moderne Mensch ist mit der desillusionierenden Erkenntnis seiner Zufälligkeit und seiner Bedeutungslosigkeit konfrontiert. Der Philosoph Günther Anders bezeichnete dies als Kontingenzschock. Naheliegend, diese Erschütterung durch den Versuch, sein Ich in der Zeit und im Raum auszudehnen, abzumildern. Wir müssen die Vergangenheit ebenso beherrschen wie die Gegenwart, wir müssen omnipräsent werden, überall unsere Spuren hinterlassen.
Die lautstark inszenierte, maßlose und mitunter üble Übertreibung ist dafür ein probates Mittel: Das kleine Ich muss sich seine Befindlichkeiten und seine moralischen Attitüden so lange aufblähen, bis es mit der Welt deckungsgleich geworden ist. Die Blase ist die falsche Metapher für unsere mediale Befindlichkeit. Wir leiden unter Blähungen.
Diese Kolumne erschien zuerst in der Neuen Zürcher Zeitung