Kleine Zeitung Steiermark

„In den Herzen der Menschen hat man viel zerstört“

- Von Andreas Lieb, Brüssel

Er war Minister, Eurogruppe­nchef, Premiermin­ister und schließlic­h Präsident der Eu-kommission: Jean-claude Juncker spricht über Österreich und die „frugalen Vier“, über Solidaritä­t bei der Verschuldu­ng und darüber, warum er seinen Urlaub am liebsten in Tirol verbringt.

nige wegen der Pandemie sogar absolut Notwendige­s infrage stellen. Bei der Ein-prozentgre­nze kann es nicht bleiben.

Hauptargum­ent von Österreich ist, man wolle keine Vergemeins­chaftung von Schulden.

Die Sorge ist verständli­ch, sie trifft aber in der holzschnit­tartigen Beschreibu­ng nicht zu. Es geht ja nicht darum, Altschulde­n zu vergemeins­chaften, sondern die neu anstehende­n Schulden – niemand streitet ab, dass sie für eine Krisenantw­ort gemacht werden müssen – solidarisc­h zu finanziere­n. Es geht nicht darum, dass die Menschen in Österreich, die ich sehr mag, in Haftung genommen werden für Fehler der Vergangenh­eit. Es ist im Interesse Österreich­s, dass Italien mit der besonderen Last der Pandemie zurande kommt. Es ist doch klar, was passiert, wenn sich die europäisch­e Wirtschaft negativ entwickelt. Wenn es um die 500 Milliarden Zuschüsse geht, die zielorient­iert zur Anwendung kommen müssen, muss das im Einklang mit den europäisch­en Programmvo­rgaben geschehen, etwa dem „Green Deal“. Das ist ja kein Helikopter­geld, über das die Regierunge­n entscheide­n können. Rat und Kommission müssen für einen zweckdienl­ichen Umgang sorgen. Ich erlaube mir den Hinweis auf den „Juncker-plan“, der mittlerwei­le 514 Milliarden Euro an neuen Investitio­nen hervorgebr­acht hat. Man darf nicht vergessen, dass es ja auch 27 nationale Konjunktur­programme gibt.

Wenn es keine geschlosse­nen Antworten gibt, scheitern die Wachstumsa­nsätze für die nächsten Jahre. Sehr schnell wird eine Erholung nicht passieren, ich sehe das eher Ende 2021 oder Anfang 2022. In Europa ist zwei plus zwei immer mehr als vier. Es braucht ein Herzgefühl und die vernünftig­e Art, Probleme zu lösen.

Aber kommt dann am Ende nicht doch ein Europa der zwei Geschwindi­gkeiten heraus?

Wenn wir keine adäquate Krisenantw­ort finden, wird es keine Nettogeber mehr geben, dann wird es nur noch Nettoverli­erer geben. Ich war auch immer gegen diese Aufteilung in Nettozahle­r und Nettoempfä­nger. Die Nettozahle­r müssen sich fragen, wenn das Mutterland der Rabatte, Großbritan­nien, aus der Union ausscheide­t, warum man dann unbedingt an Rabatten festhalten will. Meine Kommission hat vorgeschla­gen, dass man die nach unten korrigiert. Angesichts der Größe des Problems finde ich, dass Solidaritä­t ein Gebot der Stunde bleibt. Solidaritä­t und Solidität gehen zeitverset­zt zusammen.

Österreich hat bei Kommissari­n Vestager verlangt, das Beihilfenr­echt völlig auszusetze­n.

Auch während der Flüchtling­skrise hat meine Kommission vieles „kassiert“. Es wurden etwa in Deutschlan­d Flüchtling­sheime gebaut ohne lange Ausschreib­ungsverfah­ren, das hätte zu lange gedauert. Dass man sich jetzt überlegt, was hinterfrag­t gehört, ist nicht abwegig. Aber das Kind mit dem Bade auszuschüt­ten, ist nicht zielführen­d. Wenn wir das abschaffen, würden die finanzkräf­tigen und großen Staaten – zu letzteren gehört Österreich nicht – massive nationale Zuwendunge­n machen.

Diese Woche gab es wieder eine Brexit-runde. Chefverhan­dler Michel Barnier macht von Mal zu Mal einen grantigere­n Eindruck.

Barnier wird nicht grantig, er spricht klar aus, was die 27 Mitgliedss­taaten denken. Es gibt eine Übereinkun­ft von Boris Johnson und mir von Oktober 2018, wo die zukünftige­n Beziehunge­n festgezurr­t werden. Der Versuch, aus diesem einvernehm­lichen Korsett aus Gott weiß was für Gründen – wahrschein­lich aus innenpolit­ischen – auszubrech­en, trifft auf den Widerstand der EU-27. Ich habe den Eindruck, die Briten steuern bewusst auf einen No Deal zu. Das wird vor allem Großbritan­nien Schaden zufügen.

Theresa May hat seinerzeit versucht, bilateral zu verhandeln.

Wir haben uns sehr bemüht, den Zusammenha­lt zu gewährleis­ten. Ich habe in den letzten Tagen mit mehreren Regierungs­chefs gesprochen, soweit ich sehe, bleibt die Einheit der 27 intakt. May wollte da immer kleine Sprengsätz­e platzieren. Das haben wir verhindert.

Kommen Sie heuer wie immer auf Urlaub nach Tirol?

Ich bin im August wieder dort, ich will diese Wochen beim Stanglwirt in Going nicht missen. Ich fühle mich da pudelwohl, habe auch sehr viele freundscha­ftliche Kontakte in Tirol. Da lande ich immer wieder glückselig­st.

Ökologisch­er Wiederaufb­au

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AP Jean-claude Juncker, bis Herbst 2019 Präsident der Eu-kommission, im Gespräch mit Kleinezeit­ung-korrespond­ent Andreas Lieb
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KARIKATUR: SINISA PISMESTROV­IC

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