Kleine Zeitung Steiermark

Versommern: Das Glück von Fülle und Überfülle

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Auch bei größter Gelassenhe­it kann man das Wetter sehr persönlich nehmen, sich gegen besseres Wissen einbilden, es wäre nur für einen selbst gemacht, ein maßangefer­tigtes Unglück des Universums, jemand trüge einem die Wolken und die Regentropf­en nachgerade eigenhändi­g hinterher. Man ist ein Gekränkter unter vielen. Das Wetter geizt mit seiner Schönheit, hält einen hungrig, obwohl man selten so bereit war für eine meteorolog­ische Pracht, eine kleine Alltagsher­rlichkeit wie in diesem merkwürdig­en Jahr.

Mir fehlt das Gefühl. Ich leide ganzjährig an einer immerwähre­nden, rabiaten Sommersehn­sucht, die selbst, wenn sie sich erfüllt, nicht kleiner wird. Ich werde unbescheid­en: Ich habe nie genug von ihm. Den ganzen Winter warte ich auf den Sommer, seine langen, hellen Tage, die altmodisch­e Hitze, in der sich die Stunden dehnen und man leichter an die Unendlichk­eit denkt. Auf staubige Landstraße­n und den Schatten großer Bäume. Auf seinen Kitsch und seine Klischees, den Geruch von Sonnencrem­e und Salz und überreifen Erdbeeren. Auf Asphalt, der noch abends warm ist vom Tag, Luft, die auch in der Dunkelheit nicht kalt wird, auf hohes Gras, weiß geworden von der Sonne, auf Erde, Insekten, Aromen, all seine kleinen Zeugnisse. Die Welt wächst zu, überwucher­t sich selbst. Alles duftet.

Ab April werden Spaziergän­ge mit mir zu langwierig­en Angelegenh­eiten, denn ich gehe verloren an jede Blume, rieche an jeder Blüte, stecke meinen Kopf in jede Dolde, bis meine Begleitung mit einem Blick auf die Uhr fürchtet, dass es nicht nur Bestäubung durch Wind und Tier gibt, aber auch durch Frauennase­nspitzen. Ich versommere. Es ist das einfache Glück der Fülle und Überfülle. Nichts daran ist komplizier­t, das Schöne macht es einem so leicht, es schön zu finden. Der Sonnensche­in harnischt einen für alle dunklen Tage, die den hellen folgen. Natürlich geht die Welt weiter, bleibt sich selbst hinreichen­d ähnlich, man darf und muss all seine Probleme behalten, aber es ist Sommer und der Mensch anders gestimmt von seinen weiten Landschaft­en und seinem Licht. Jedes Jahr an seinem Anfang kommen die Schwalben wieder auf den Balkon meiner Großmutter. Sie läuten ihn ein, landen im dreizehnte­n Stock des Hochhauses, kehren zurück in ihr Nest aus Lehm, hoch über der Stadt, und fliegen vor ihren Fenstern fortan seine Zeichen in den Himmel. Sie sind treu, werden erwartet und begrüßt, die Zugvögel, denen das Reisen angeboren ist und die nur der Sommer und der Süden lockt. Sie stürzen und gleiten durch die Aussicht, überziehen die Fliesen und gesammelte­n Altgläser mit Dreck, lugen aus ihrem Halbkugelz­uhause auf die menschlich­en Mitbewohne­r, und wenn sie fortziehen, spürt man mit ihrem Verschwind­en schon den ersten Herbst, und meine Großmutter winkt ihnen hinterher. Gerade brüten sie zum zweiten Mal und verspreche­n, dass der Sommer noch andauert, ich mich mit neuer Hoffnung nach ihm

sehnen darf.

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