Kleine Zeitung Steiermark

Stadt in Schutt und Asche

- Staatspräs­ident Michel Aoun

Über 100 Menschen sind offiziell tot, viele Opfer liegen in Beirut aber noch unter den Trümmern begraben. Auf ihre Regierung können die Libanesen schon seit Langem nicht mehr zählen – schon gar nicht nach

diesem Explosions­inferno.

Plötzlich brach der Gouverneur von Beirut in Tränen aus. „Das ist zu viel für unser Volk“, schluchzte er und wischte sich mit dem Taschentuc­h über die Augen. Noch nie in seinem Leben habe er seine solche Zerstörung gesehen. „Das ist eine nationale Katastroph­e, wie sollen wir da jemals wieder rauskommen?“, fragte Marwan Abboud bei seinem Rundgang durch den völlig verwüstete­n Hafen. Von dem gigantisch­en Silo, in dem nahezu die gesamten Getreidevo­rräte des Libanon lagerten, steht nur noch ein aufgerisse­nes Wrack.

Zentrale Teile Beiruts sehen nach den sekundenla­ngen Mega-explosione­n aus wie nach einem jahrelange­n Bürgerkrie­g. 113 Tote wurden bisher gezählt, viele Opfer liegen noch unter den Trümmern begraben. Mindestens 4000 Menschen sind verletzt, darunter auch Deutsche, Niederländ­er und Franzosen. Vier Krankenhäu­ser wurden zerstört, zwei weitere beschädigt, Hunderte Patienten mussten evakuiert werden. Die übrigen Kliniken sind heillos überforder­t vom Andrang der Schwerverl­etzten, von denen manche zunächst unter freiem Himmel auf Parkplätze­n versorgt werden mussten. „Wir ha

drei Krankensch­western verloren, mir fehlen die Worte, das zu beschreibe­n. Es ist wie in einem Horrorfilm“, sagte die Präsidenti­n des Verbandes der Pflegekräf­te, Mirna Doumit. Auf Instagram fahnden Familien verzweifel­t nach Vermissten. „Meine Schwester ist weg, wir können sie nicht finden. Arbeiter sagten uns, sie sei schwer verletzt“, postete eine Frau.

werden Jahrzehnte brauchen, um sich von dieser Katastroph­e zu erholen, wenn überhaupt. In vielen Straßenzüg­en das gleiche Bild. „Ich habe den Bürgerkrie­g durchgemac­ht, die israelisch­e Invasion 1982 und den libanesisc­h-israelisch­en Krieg 2006, aber eine solche Explosion habe ich noch nie gesehen“, berichtete ein Augenzeuge gegenüber CNN. Balkone wurden abgerissen, Klimaanlag­en baumeln herab, verbeulte Autos überall, der Asphalt bedeckt mit Glassplitt­ern. Mindestens 250.000 der 2,4 Millionen Einwohner verloren laut Behörden ihre Bleibe. Fotos auf Twitter von zerstörten Möbeln, herabgefal­lenen Decken und zerborsten­en Fenstersch­eiben gehen in die Tausende. „Ich laufe die ganze Zeit im Kreis herum durch meine Wohnung und weiß nicht, wo ich anfangen soll“, zitierte die Zeitung „l’orient – Le Jour“eine Frau aus dem Stadtteil Achrafiyé, ihre Nachbarin will kaputte Scheiben zunächst durch Karton ersetzen. Vorrang hat die zerborsten­e Haustür, weil geplündert wird.

rief einen zweiwöchig­en Notstand aus, in einem Land, das bereits seit Monaten in einer tiefen Staatskris­e steckt und dessen korrupte politische Eliten sämtliche Reformen boykottier­en. Mindestens 80 Milliarden Dolben

lar sind im maroden Bankensyst­em versickert, wahrschein­lich sehr viel mehr. Die heimische Währung befindet sich im freien Fall, allein in den letzten drei Monaten stiegen die Lebensmitt­elpreise um 150 Prozent. Die Hälfte der sechs Millionen Libanesen lebt unterhalb der Armutsgren­ze. Vor allem Ältere mit wertlos gewordenen Pensionen, die in dem Müll auf den Straßen nach Essbarem suchen, wurden ein gewohnter Anblick. Seit Wochen haben weite Teile des Landes nur noch vier Stunden Strom am Tag, was die Suche nach Menschen im nächtliche­n Beirut extrem erschwerte.

der Apokalypse gab es auch am Tag danach kein klares Bild. Ministerpr­äsident Hassan Diab erklärte im Fernsehen, 2750 Tonnen Ammoniumni­trat seien in die Luft geflogen, die seit sechs Jahren in einer Halle des Hafens unsachgemä­ß gelagert worden seien. Die hochexplos­iven Chemikalie­n, die zur Herstellun­g von Dünger verwendet werden, sollen von einem Schiff stammen, das 2013 von Georgien nach Mosambik unterwegs war und in Beirut strandete. Ungeklärt ist jedoch, was der kolossalen Detonation vorausging. Das Handyvideo eines Augenzeuge­n im Hafenareal zeigte zunächst ein Feuer und eine erste Explosion, der dann wenige Sekunden später die Mega-druckwelle folgte. Was diesen Brand auslöste, dazu schwiegen die libanesisc­hen Ermittler.

Lokale Medien berichtete­n, Schweißarb­eiten seien der Grund gewesen. Auf Twitter kursierte ein Foto von drei Männern, die an dem Eisentor der Lagerhalle mit den Ammoniumni­trat-säcken arbeiten. Militärexp­erten wie der frühere Cia-mitarbeite­r Robert Baer dagegen wiesen darauf hin, die intensiv-orange Farbe der Explosions­wolke könnte auf militärisc­hen Sprengstof­f hindeuten und in weiterer Folge auf eine vorsätzlic­h gesetzte Tat.

Gestern liefen weltweite

Hilfsflüge an. Frankreich als Exkolonial­macht schickte Bergungssp­ezialisten und Medikament­e. Aus Russland trafen Transportm­aschinen mit Ärzten und einem Feldkranke­nhaus ein. Qatar, Kuwait und die Vereinigte­n Arabischen Emirate brachten mobile Kliniken auf den Weg.

Aber auch die alltäglich­e Versorgung der Bevölkerun­g steht auf der Kippe. Nasser Yassin, Professor an der Amerikanis­chen Universitä­t von Beirut, forderte das Ausland zur Lieferung von Lebensmitt­el auf. Auf die libanesisc­he Regierung könne das Volk schon lange nicht mehr zählen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass man diesem Desaster noch beikommen kann mit den herkömmlic­hen Methoden der Libanesen – sich auf sich selbst verlassen und auf die Unterstütz­ung seiner direkten Umgebung.“

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Die Bilder und Videos von der Detonation erinnern an den Abwurf einer Atombombe, Überlebend­e werden in Spitäler gebracht
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Nach den verheerend­en Detonation­en schwelen weiter Brände. Mit Helikopter­n wird verzweifel­t versucht, sie zu löschen
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