Kleine Zeitung Steiermark

Der Libanon, ein Staat im freien Fall

- Von Martin Gehlen

Der Libanon steckt in der schlimmste­n Krise seit Ende des Bürgerkrie­gs 1990. Die Währung befindet sich im freien Fall. Pensionen, Löhne

haben 85 Prozent ihrer Kaufkraft verloren.

Die Frau im rosa T-shirt weint, der ältere Mann mit weißem Haar, der sie gebracht hat, hebt ihre Habseligke­iten aus dem Kofferraum seines Mercedes und fährt davon. Für die Frauen auf dem Bürgerstei­g vor dem äthiopisch­en Generalkon­sulat in Beirut, die die Neue tröstend in den Arm nehmen, ein gewohntes Bild. Sie alle teilen das gleiche Schicksal und hoffen nun auf einen Repatriier­ungsflug nach Addis Abeba. „Ich weiß nicht, was sich diese Leute denken“, ruft erregt eine junge Äthiopieri­n in die Kameras. „Ich bin doch kein Müll, den man einfach so wegwerfen kann.“

Einst gepriesen als „die Schweiz des Orients“, steckt der Libanon in der schlimmste­n Staatskris­e seit Ende des Bürgerkrie­gs 1990. Die Währung befindet sich im freien Fall. Gehälter, Pensionen und Ersparne nisse haben 85 Prozent ihrer Kaufkraft verloren. Die Arbeitslos­igkeit steigt stetig, genauso die Kriminalit­ätsrate.

der Bevölkerun­g lebt mittlerwei­le in Armut, in der Mittelklas­se macht sich Verzweiflu­ng breit. Quer durch das Land lassen sich Menschen vor ihren leeren Kühlschrän­ken fotografie­ren. Auf Tauschbörs­en im Internet bieten Mütter Kleider und Schmuck gegen Babywindel­n oder Milchpulve­r. Die Angst vor einer Hungersnot steigt, weil fast alle Lebensmitt­el importiert werden müssen.

Wie immer trifft die Misere zuerst die Schwächste­n: die 1,5 Millionen syrischen Flüchtling­e und die 180.000 ausländisc­hen Haushaltsh­ilfen, die überwiegen­d aus Äthiopien oder von den Philippine­n stammen. Das sogenannte Kafalasyst­em macht die Frauen völlig rechtlos. Ihre Pässe müssen sie abgeben. Die Löhne sind gering, Arbeitszei­ten endlos. Seit das Coronaviru­s grassiert und der Libanon in den Bankrott taumelt, versuchen Hunderte libanesisc­he Familien, ihre ausländisc­hen Angestellt­en loszuwerde­n, setzen sie einfach auf die Straße und überlassen sie ihrem Schicksal.

Ausgelöst wurde die Megakrise durch den Kollaps des Bankensekt­ors, über den die politische­n und wirtschaft­lichen Eliten jahrzehnte­lang ihre eige

mit 170 Prozent des Bruttosozi­alprodukts zu den Rekordschu­ldnern des Globus, was einer Summe von 92 Milliarden Dollar entspricht. Als der toxische Devisenzuf­luss im letzten Herbst plötzlich versiegte, brach das finanziell­e Kartenhaus zusammen. Im März konnte der Libanon eine Staatsanle­ihe nicht mehr zurückzahl­en. Sämtliche Konten sind seither blockiert, Bankkunden kommen kaum noch an ihre Devisen.

Experten schätzen, dass sich mehr als 80 Prozent der privaten Dollarguth­aben in Luft aufdie

traten mittlerwei­le zurück. Es gebe „keinen echten Willen, Reformen durchzuset­zen und den Bankensekt­or zu restruktur­ieren, einschließ­lich der Zentralban­k“, erklärte Henri Chaoul die verfahrene Situation.

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APA/AFP (2) Schon lange ist der Volkszorn enorm, die meisten f´ühlen sich vom Staat verraten
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Selbst Benzin ist oft Mangelware

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