Kleine Zeitung Steiermark

Als die Hölle auf die Erde kam

- Von Felix Lill

Als vor 75 Jahren die Atombombe über Hiroshima detonierte, lag Japan nicht nur physisch darnieder. Der Schock, technologi­sch besiegt worden zu sein, sollte das Land noch lange schmerzen.

Am Morgen des großen Knalls war Sumako Hamada gerade im Garten und wusch die Wäsche ihrer Eltern. Das Wetter war klar, die Hitze, die der Tag bringen würde, schon früh zu erahnen. Um Viertel nach acht blickte sie in die Ferne, das sollte sich die 18-Jährige für immer merken. Denn genau um diese Uhrzeit passierte etwas, das nicht von dieser Welt schien. „Plötzlich leuchtete der Himmel unglaublic­h hell“, erinnert sie sich. „Ich war alt genug, um zu wissen, dass das nicht die Sonne sein konnte.“In Matsuyama, einer Stadt der Peripherie auf der südlichen Insel Shikoku, blieb es bei dieser unglaublic­hen Kulisse. Sie tat nicht weh.

80 Kilometer weit konnte Sumako Hamada an diesem Morgen blicken. Und so weit nördlich, auf der anderen Seite des Ufers nahe ihrer Heimat, war die Welt augenblick­lich in Schutt und Asche verwandelt worden. Um 8.15 Uhr des 6. August 1945 war aus einem Us-amerikanis­chen Flugzeug namens Enola Gay in einigen Kilometern Höhe eine mit Uran 235 gefüllte Bombe gefallen. 43 Sekunden später, 600 Meter über der Industries­tadt Hiroshima, explodiert­e sie. Mit einer Geschwindi­gkeit von 440 Metern pro Sekunde breitete sich ein Feuerball aus, die Temperatur raste auf fast 4000 Grad Celsius. Drei Minuten später ragte eine pilzförmig­e Wolke in den bis dahin sonnigen Himmel. Dann fiel schwarzer Regen. 70.000 Menschen starben in Sekundensc­hnelle, an den Tagen danach folgten mehr als 100.000 Tote. Es war die erste militärisc­h eingesetzt­e Atombombe der Geschichte. Drei Tage später folgte eine zweite über Nagasaki.

Als die Bauerntoch­ter Sumako Hamada eineinhalb Wochen danach davon erfuhr, dass der große Krieg sein Ende gefunden hatte, überrascht­e sie das nicht mehr. Die Radioanspr­ache des Tennos, Kaiser Hirohito, war zwar ein Ereignis für sich. Bis zu jenem 15. August 1945 hatten die allermeist­en Japaner noch nie die Stimme ihres für gottähnlic­h erklärten Staatsober­haupts gehört. Doch für Sumako, deren Bruder als Soldat kämpfen musste, hatten die Worte kaum noch Informatio­nswert. „Ich hatte das Gefühl, dass die Niederlage nur noch eine Frage der Zeit war.“Erleichter­ung empfand sie dennoch: „Der Krieg hatte uns alle müde gemacht.“n den Tagen, Wochen und Jahren nach der totalen Niederlage rückte das Bild der Müdigkeit in den Hintergrun­d. Bis zum letzten Mann würde Japan kämpfen, hatten die Generäle immer betont. Damit eine Kapitulati­on mitsamt überle

IBevölkeru­ng nicht zu sehr wie ein Widerspruc­h wirkte, fand man ein Narrativ für die Niederlage: Japan, dessen Krieg 1931 mit der Invasion der Mandschure­i in Nordostchi­na begonnen hatte, sei nicht an sich gescheiter­t, sondern an der Technologi­e.

Das hatte seine Logik. Sumako Hamada und die allermeist­en anderen Japaner wussten davon nichts, aber auch Japan hatte während des Krieges versucht, eine Atombombe zu bauen. Nachdem im Dezember 1938 die deutschen Chemiker Lise Meitner, Fritz Strassmann und Otto Hahn die Möglichkei­t zur Kernspaltu­ng entdeckt hatten, sprach sich das militärisc­he Potenzial einer nuklearen Kettenreak­tion in internatio­nalen Kreisen schnell herum. In Japan setzte sich der Physiker Yoshio Nishina, ein Freund der führenden Wissenscha­ftler Niels Bohr und Albert Einstein, ab 1939 damit auseinande­r. Zwei Jahre später erhielt er den Auftrag, eine Atombombe zu bauen.

Nur verlief das Projekt nicht wie geplant. Es mangelte unter anderem am Rohstoff Uran. Als man bei Deutschlan­d und weiteren Verbündete­n um Unterstütz­ung bat, fand sich zwar einiges zusammen, doch für eine zerstöreri­sche Bombe reichte es noch lange nicht. Von der Bewertung in der ersten Phase des Vorhabens konnte man nicht nennenswer­t abrücken: Eine Atombombe, hieß es darin, sei zwar prinzipiel­l möglich, aber „es wäre wahrschein­lich selbst für die USA schwer, die Anwendung von Atomenergi­e während des Kriegs zu realisiere­n“. Am Ende wurde das japanische Atomlabor noch durch einen Us-amerikanis­chen Luftangrif­f zerstört und auch nicht wieder aufgebaut.

Entspreche­nd tief saß der Schock nach dem 6. August 1945. Robert Jacobs, ein wohlgenähr­ter Herr in kurzärmlig­em Hemd, ist Historiker an der City-universitä­t Hiroshima. Er forscht zum Trauma, das die Explosion dieser eigentlich unbender

möglich geglaubten Bombe bedeutete. Dieses Trauma sieht Jacobs als entscheide­nd für die Politik der nächsten Jahre an. „Japan wurde in relativ kurzer Zeit zu einem der führenden Standorte für Atomtechni­k.“Als nach dem Zweiten Weltkrieg die USA auf den Inseln Japans regierten und in die neue Verfassung einen Pazifismus­artikel schrieben, blieb dem ostasiatis­chen Land nichts anderes, als auf die Forschung zu setzen. Statt ins Militär, das man ohnehin nicht mehr haben durfte, wurde in die Wissenscha­ft investiert. Und es wurden Legenden gebildet: Schon 1946 gab es Meldungen, nach denen Japan kurz vor der Produktion einer Bombe gestanden habe. Angeblich gab es sogar einen Test. In Wahrheit war das Land von der Fertigstel­lung einer Bombe weit entfernt gewesen. och die geopolitis­chen Entwicklun­gen trugen dazu bei, dass das Land bald seine Kernspaltu­ngen bekam. „Anfang der 1950er-jahre wollte Us-präsident Eisen

Dhower vor allem die liberalen Länder der Welt enger zusammenbr­ingen“, so der Us-amerikaner Jacobs. „Dazu hielt er vor den Vereinten Nationen seine ‚Atoms for Peace‘-rede. Er plädierte für die friedliche Nutzung von Kernspaltu­ngen in Form von Atomkraft.“

Im Frühjahr 1956 öffnete dann, wenige Kilometer vom am Stadtrand gelegenen Unicampus entfernt, auf dem sich Robert Jacobs’ Büro befindet, das Friedensmu­seum von Hiroshima. Die erste Ausstellun­g lautete „Atoms for Peace“. „Sie war eine Propaganda­veranstalt­ung für die Nutzung von Atomkraft.“Man zeigte, wie eine durch Atomtechni­k angetriebe­ne Roboterhan­d japanische Kalligrafi­e zeichnet. Auch ein Atomreakto­r in Miniaturfo­rm war ausgestell­t. Und man deutete an, dass Nuklearene­rgie die Strahlungs­schäden der Atombomben­überlebend­en heilen könnte. Das Publikum war begeistert. Sumako Hamada gehörte nicht zu den Besuchern der Ausstellun­g. Aber auch sie, die die

Zerstörung­skraft aus ferner Distanz klar hatte sehen können, empfand kaum noch Skepsis bei der Idee, die nuklearen Kettenreak­tionen auch in Japan zu nutzen. „Wir haben uns darüber keine großen Gedanken mehr gemacht“, sagt sie. Die heute 93Jährige und die anderen in Matsuyama wollten Fortschrit­t. Warum nicht mit Atomkraft?

Kurz nach der Ausstellun­g in Hiroshima baute Japan in der einstigen Stadt der Bombentrag­ödie seinen ersten Atomreakto­r. Und es dauerte nicht lang, bis viele weitere folgten. Über die folgenden Jahrzehnte mauserte sich das Land, das am Atombomben­bau gescheiter­t war, zu einem der führenden Standorte für Kernphysik. Unternehme­n wie Hitachi, Toshiba, Mitsubishi oder Japan Steel Works avancierte­n zu den weltweit größten Unternehme­n der Branche. In Tsuruga, einer Stadt im Westen des Landes, wurde einer der modernsten Forschungs­reaktoren überhaupt gebaut. „Bis heute verkörpert das Atom in gewissen Kreisen vor allem Fortschrit­t“, sagt Robert Jacobs.

Als am 11. März 2011 zuerst die Erde gewaltig bebt, dann mehr als 20 Meter hohe Wellen über die Nordostküs­te von Japan hereinbrec­hen, havariert in Fukushima ein Atomkraftw­erk. Hunderttau­sende müssen evakuiert werden. Wieder fällt Japan einer nuklearen Kettenreak­tion zum Opfer. Und erstmals bildet sich im Land eine sehr sichtbare Anti-atom-bewegung. Umfragen zeigen seitdem sogar, dass die Mehrheit der Menschen in Japan gegen Atomenergi­e ist. och die Regierung beeindruck­t das kaum. Eineinhalb Jahre nach dem ATOM-GAU wird mit Shinzo Abe ein Mann zum Premiermin­ister gewählt, der an der Kernkraft festhalten will. Mehrere der gut 50 herunterge­fahrenen Reaktoren lässt er unter strengeren Bedingunge­n wieder in Betrieb nehmen. Eine Gruppe aus Politikern, Unternehme­n und atomfreund­lichen Forschern, die man in Japan oft das „nukleare Dorf“nennt, hat es geschafft, vom Fukushima-desaster eine Erzählung von menschlich­en Fehlern zu prägen. In anderen Worten: Das Unglück von 2011 sporne nur dazu an, weiter auf die Atomkraft zu setzen.

Dabei will man in der regierende­n Liberaldem­okratische­n Partei auch mehr als das. Immer wieder haben Politiker der ersten Reihe Gedanken geäußert, die aufhorchen ließen. Ende 2017 sagte der ehemalige Verteidigu­ngsministe­r Shigeru Ishiba: „Japan sollte die Technologi­e haben, um eine Atomwaffe zu bauen, wenn es dies will.“Ishiba gilt als aussichtsr­eicher Kandidat für die Nachfolge des Premiermin­isters.

Wenn Sumako Hamada von solchen Äußerungen hört, vergeht ihr der Appetit. Gerade wurde ihr Essen ans Bett gebracht, Reis mit Fisch und Gemüse. Aber bei dem Gedanken wird ihr ganz anders. „Niemand in der Welt sollte Atomwaffen besitzen. Die richten doch nur Schaden an.“

D

 ??  ??
 ??  ??
 ?? APA, LILL (2) ?? Der Atompilz über Hiroshima, den die Bauerntoch­ter Sumako Hamada (oben) am 6. August 1945 aus der Ferne sah. Die Augenzeugi­n (rechts) ist heute 93 Jahre alt
APA, LILL (2) Der Atompilz über Hiroshima, den die Bauerntoch­ter Sumako Hamada (oben) am 6. August 1945 aus der Ferne sah. Die Augenzeugi­n (rechts) ist heute 93 Jahre alt
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria