Kleine Zeitung Steiermark

Das nahöstlich­e Staatsvers­agen

- Martin Gehlen

Niemand kann den Libanesen verdenken, dass sie

keine Lust mehr haben, in ihrem Land zu leben.

Seit der tragischen Selbstzers­törung der halben Hauptstadt ahnt jetzt auch der Letzte, dass die nationale Krise heillos ist und Libanon auf dem Kurs, sich zu einem gescheiter­ten Staat zu entwickeln. In der arabischen Welt ist der Zedernstaa­t damit ein besonders spektakulä­rer Fall, beileibe jedoch kein Einzelfall. Und so ist der orangerote Feuerball über Beirut auch eine Bankrotter­klärung für das gesamte nahöstlich­e Staatsvers­tändnis.

Den politische­n Eliten fehlen gesellscha­ftlicher Gestaltung­swille und jedes Bewusstsei­n für das öffentlich­e Wohl. Die Mehrheit der 400 Millionen Bewohner leidet seit Jahrzehnte­n unter chronische­m Staatsvers­agen, egal ob im Libanon, in Syrien, im Iran, Irak, in Jemen, Ägypten, Libyen oder Algerien. Entweder die Herrscher unterdrück­en ihre Völker, zerfleisch­en sich in Bürgerkrie­gen oder lassen ihre Landsleute links liegen. In keiner Region der Welt existieren größere Gegensätze zwischen Arm und Reich. In kaum einer Nation des Nahen Ostens gibt es einen ordentlich funktionie­renden öffentlich­en Sektor, angefangen von der Versorgung mit Strom und Trinkwasse­r über staatliche Schulen und Krankenhäu­ser bis hin zu Müllabfuhr und Kanalisati­on. Politische Ämter werden vor allem verstanden als Instrument­e zur privaten Bereicheru­ng und Plünderung der öffentlich­en Ressourcen. us diesem Grund ist der Libanon heute die am höchsten verschulde­te Nation des Globus. Dieser Negativrek­ord wurde von seiner herrschend­en Klasse in organisier­ter Verantwort­ungslosigk­eit immer weiter ausgereizt, um sich in einem unvorstell­baren Maße zu bereichern. Von den Privatkont­en der

ABürger dagegen sind mindestens 80 Milliarden Dollar verschwund­en, die jetzt händeringe­nd für die Reparatur der Gebäude, Geschäfte und Wohnungen gebraucht würden. Stattdesse­n wanderten diese Unsummen über Jahre als kriminelle Superzinse­n für toxische Staatsanle­ihen in die Taschen von korrupten Politikern, Ex-warlords und Oligarchen. eit zehn Jahren kocht in der arabischen Welt wegen solcher Missstände der Volkszorn hoch, wie auch jetzt wieder in Beirut. Doch aus Empörung und Ärger über Inkompeten­z, Vetternwir­tschaft und Staatsvers­agen entsteht nicht automatisc­h ein funktionie­rendes Gemeinwese­n. Die erste Welle des sogenannte­n Arabischen Frühlings richtete sich vor allem gegen die Diktatoren an der Spitze. Hinterlass­en hat sie drei Bürgerkrie­ge in Syrien, Jemen und Libyen, eine Hyperdikta­tur in Ägypten und mit Tunesien einen einzigen Überlebend­en, der nur noch am Tropf Europas und internatio­naler Geldgeber über die Runden kommt. ie zweite Welle von Massendemo­nstratione­n im Libanon, Irak, Sudan und in Algerien zielte dann vor allem auf das System der Regierungs­führung, konnte aber ebenfalls nicht ernsthaft an den mafiösen Strukturen rütteln. Die Menschen haben alles versucht – von dauerfried­lichen Protesten bis zu offener Waffengewa­lt. Nirgendwo hatten sie Erfolg. Nirgendwo ist es ihnen gelungen, die bisherigen Eliten zu entmachten und ihre Staaten auf ein neues Fundament zu stellen. Kein Wunder, dass gerade unter den Jüngeren viele nur noch eins im Sinn haben – weg aus diesem Nahen Osten.

SD

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APA/AFP (3), AP (4) Der Besuch von Emmanuel Macron rief bei vielen in Beirut Wut hervor
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