Kleine Zeitung Steiermark

Zwischen Angst und Freiheit

Nach den geschlagen­en Präsidents­chaftswahl­en geht der Machtkampf in Weißrussla­nd erst richtig los.

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Alle Pfeile seien auf ihn gerichtet, beschwerte sich Alexander Lukaschenk­o vor ein paar Tagen. Man wolle ihn vernichten, der weißrussis­che Staatschef klang beleidigt. „Wir gehören zu euch, zum Volk. Wenn wir schlecht sind, heißt das, auch ihr müsst euch ändern.“Schließlic­h sei er das Spiegelbil­d des Volkes.

Schon vor den gestrigen Präsidents­chaftswahl­en flatterten die Nerven des Amtsinhabe­rs sichtlich. Mit dem offizielle­n Ergebnis wird heute gerechnet. Viermal verteidigt­e er seinen Posten als Staatschef mit einer Rezeptur aus populistis­chen Verspreche­n, Betriebsgr­uppenzwang, Manipulati­on und Gewalt. Auch diesmal hat er zwei seiner Hauptkonku­rrenten ins Gefängnis werfen lassen, der dritte musste ins Ausland fliehen, weitere Festnahmen sind in vollem Gang. Bei den fünftägige­n Vorwahlen haben nach amtlichen Angaben schon über 40 Prozent der Weißrussen abgestimmt, unabhängig­e Wahlbeobac­hter reden von massiv frisierten Wahlprotok­ollen.

Dabei machen die Weißrussen durchaus mobil, auch in Kleinstädt­en strömten Tausende zu den Wahlauftri­tten der Opposition­skandidati­n Swetlana Tichanowsk­aja. Die Ehefrau eines der verhaftete­n Opposition­skandidate­n besitzt einen Programmpu­nkt: neue, freie Wahlen – ohne Lukaschenk­o. Der ehemalige Sowchose-direktor ist berühmt für sein stures Beharren auf staatliche­r Planwirtsc­haft. Der durch und durch sowjetgepr­ägte Politiker kann sich nicht vorstellen, dass die Weißrussen ihn nach einem Vierteljah­rhundert schlicht satthaben könnten.

Weißrussla­nd jedoch ist nicht mit dem 65-Jährigen gealtert, viele Weißrussen arbeiten oder studieren im Ausland, wissen besser als ihr Staatschef, wie soziale Netze, pluralisti­scher Meinungsau­stausch oder freie Marktwirts­chaft funktionie­ren. Aber es gilt als sicher, dass Lukaschenk­o ein ähnliches offizielle­s Resultat wie die 83,4 Prozent bei den vergangene­n Wahlen 2015 verkünden lassen will, auf jeden Fall einen glatten Sieg im ersten Wahlgang.

Sehr viele Weißrussen glauben, die Machtfrage entscheide sich erst nach der Bekanntgab­e solch eines manipulier­ten Sieges – auf den Straßen und Plätzen des Landes. Schon mehrmals gab es Massenprot­este gegen Lukaschenk­o-wahlsiege, 2010 forderten in Minsk 50.000 Demonstran­ten Neuwahlen, sie wurden von Sicherheit­skräften gewaltsam auseinande­rgejagt, mehrere Hundert Menschen wurden verhaftet, darunter sieben Präsidents­chaftskand­idaten. etzt schwebt die bange Frage über Minsk, ob die Opposition in der Zweimillio­nenstadt die kritische Masse von über 100.000 Leuten auf die Beine bringt, die wohl nötig ist, um die für ihre Schlagkraf­t berüchtigt­e weißrussis­che Einsatzpol­izei einzuschüc­htern.

Oder ob Lukaschenk­o gar die Armee einsetzt, um seine Macht zu retten. Über Minsk schwebt eine Ahnung von Angst und Leiden, aber auch von Freiheit und Mut. Und niemand in Weißrussla­nd weiß, was heute Nacht geschehen wird.

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