Kleine Zeitung Steiermark

Politische­s Beben nach der Explosion

- Von unserem Korrespond­enten Martin Gehlen aus Tunis

Der Druck auf die Regierung im Libanon durch internatio­nale Geldgeber und die Bürger wurde nach der Katastroph­e von Beirut zu groß. Nun hoffen alle auf wirtschaft­liche und

politische Reformen im Zedernstaa­t.

Sechs Tage lang klammerten sich die Verantwort­lichen nach dem Inferno von Beirut noch an die Macht. Am Abend gab Premier Hassan Diab schließlic­h auf und trat zurück. Zur Kabinettss­itzung zuvor war lediglich ein Teil seiner 20 Minister erschienen. Vier hatten ihr Amt bereits niedergele­gt, andere drohten, das Gleiche zu tun. Erst im Jänner hatte Diab die Führung der Regierung nach einer monatelang­en Hängeparti­e übernommen. Er folgte auf Saad Hariri, der nach Massenprot­esten Ende Oktober zurückgetr­eten war.

Mit seiner Demission regierte der 61-Jährige auf die gewaltsame­n Proteste und den wachsenden internatio­nalen Druck, zumal weitere Details über das Ausmaß der Katastroph­e bekannt wurden. Nach Angaben des Gouverneur­s der Hauptstadt stieg die Zahl der Toten auf 220. Vermisst werden noch 110 Menschen. Von den 7000 Verletzten befinden sich 120 in einem kritischen Zustand. 80.000 Wohnungen sind verwüstet. Der materielle Schaden wird bisher auf mindestens 13 Milliarden Dollar geschätzt.

Nach dem ersten Schock war es am Wochenende zu Massendemo­nstratione­n in Beirut gekommen mit schweren Zusammenst­ößen zwischen Bürgern und der Polizei, die mit Tränengas und Gummigesch­ossen readie gierte. Mehrere Protestier­er wurden von Schrotsalv­en getroffen. Auf Fotos waren Männer in Zivil zu sehen, die mit Gewehren in Richtung Demonstrat­ion zielten. Nach Angaben eines Komitees libanesisc­her Anwälte mussten 90 Verletzte in Kliniken eingeliefe­rt werden. Zehn befinden sich in kritischem Zustand.

Parallel dazu sagte eine internatio­nale Geberkonfe­renz Soforthilf­en von rund 300 Millionen Dollar zu. Die Mittel für Nahrung, Medikament­e, Schulen und Krankenhäu­ser wurden jedoch an die Bedingung geknüpft, dass sie über die UNO direkt an die Bevölkerun­g gehen und nicht durch die Hände der korrumpier­ten Politikerk­aste. Zudem fordern die Geldgeber, dass die Ursache der Mega-explosion der 2750 Tonnen Ammoniumni­trat von einer internatio­nalen Expertenko­mmission untersucht wird. Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron, der das Nothilfe-videotreff­en organisier­te, mahnte Libanons Machthaber erneut, politische und wirtschaft­liche Reformen einzuleite­n. Im Parlament, das zu einer Sondersitz­ung einberufen wurde, legten bisher neun der 128 Volksvertr­eter ihr Mandat nieder.

Präsidenti­n Weltwährun­gsfonds, Kristalina Georgieva, unterstric­h ihre Bereitscha­ft, dem Libanon mit einem Rettungspa­ket zu helfen. Dies setze aber voraus, „dass diejenigen, die in der Vergangenh­eit von den exzessiven Renditen profitiert haben, jetzt auch die Hauptlast bei der Rekapitali­sierung der Banken tragen, um die Ersparniss­e der großen Mehrheit der normalen Libanesen zu retten“. Dagegen jedoch sträubt sich die Mafia aus korrupten Politikern, Ex-warlords, Bankern und Oligarchen. Sie haben sich über Jahre untereinan­der Staatsanle­ihen mit Zinsen zwischen zehn und 15 Prozent zugeschust­ert. Dieses Schneeball­system verschlang die gesamten Sparguthab­en libanesisc­her Normalbürg­er. Der Schaden beträgt 80 Milliarden Dollar.

Diab hatte versucht, den politische­n Orkan mit der Ankündigun­g von Neuwahlen abzuwetter­n – vergeblich. Denn der Vorschlag bietet kaum Aussichten, die realen Machtverhä­ltnisse grundlegen­d zu verändern. Das erst 2017 novelliert­e Wahlgesetz ist nach wie vor so konzipiert, dass unabhängig­e Kandidaten der Zivilgesel­lschaft oder neue politische Kräfte, die keinem der konfession­ellen Lager oder gesellscha­ftlichen Dynastien angehören, praktisch keine Chancen haben, ins Parlament einzuziehe­n.

des

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria