Gorbatschow und die deutsche Einheit
Der Weg vom Mauerfall bis zur Wiedervereinigung wurde maßgeblich von der Sowjetunion bestimmt – und auch auf Kosten der Machthaber in Moskau.
Nach dem Mauerfall wurde SED-CHEF Egon Krenz zum sowjetischen Botschafter in Ostberlin bestellt. Er war in Erklärungsnot: Der Mauerfall sei freiwillig erfolgt. Moskaus Vertreter machte klar, dass es zwar an der DDR liege, die Grenze zur BRD zu öffnen, aber im Falle Berlins seien die Interessen der Alliierten tangiert. Krenz blieb nichts anders übrig, als Michail Gorbatschow zu bitten, die Westmächte zu kontaktieren. Das war das Letzte, was er noch tun konnte: Moskau aktivieren, um den Schutz der Grenze in Berlin wiederherzustellen.
Offiziell stärkte Moskau Ostberlin den Rücken. Gorbatschow warf Helmut Kohl vor, die DDR destabilisieren zu wollen. Der Kreml hielt an der völkerrechtlich verbrieften Zweistaatlichkeit fest. Aber die deutsche Frage wurde für Moskau nun auch zum Dilemma der Perestroika – ein Husarenritt für Gorbatschow und seinen Außenminister Eduard Schewardnadse. Sie sollten schon bald mit dem Rücken zur Wand stehen.
Auch wenn die Deutschen in Ost und West immer lauter die Wiedervereinigung verlangten, schätzte Kohl die Lage realistisch ein: Die sowjetische Politik schloss zu diesem Zeitpunkt eine Wiedervereinigung als Lösung der Krise in der DDR eindeutig aus. Wenige Wochen später sah alles anders aus. Kohl ging in die Offensive. Dabei half ihm auch die Initialzündung aus Moskau. In den Korridoren des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei „wirkte“die „graue Eminenz“, Walentin Falin, der Gorbatschow zum Handeln drängte. Er wollte von Kohl die Zweistaatlichkeit garantiert wissen. Dazu schickte er einen Mitarbeiter zu Kohls rechter Hand, Horst Teltschik, um noch einmal die sowjetischbundesdeutschen Vereinbarungen zu betonen. Doch der Schuss ging nach hinten los. Teltschik war wie elektrisiert, als der Zk-gesandte nebenbei davon sprach, dass dies Sowjetunion mittelfristig einer wie immer gestalteten deutschen Konföderation grünes Licht geben könnte. In Windeseile erarbeitete Kohl einen Zehn-punkte-plan zur Wiedervereinigung.
Gorbatschow reagierte entsetzt über sein Vorpreschen. Außenminister Hans-dietrich Genscher bekam dies am 4. Dezember in Moskau zu spüren. Kohl ließ nun Vorsicht walten und legte die zehn Punkte als langjährige Entwicklung dar, die am Ende zur Einheit führen sollte.
Auf dem Seegipfel vor Malta am 2./3. Dezember, auf dem Gorbatschow und Us-präsident George Bush medienwirksam den Kalten Krieg beendeten, hatte sich Gorbatschow die Us-zusicherung eingeholt, keine übereilten Handlungen in der Wiedervereinigungsfrage zu setzen. och schon auf der Natoratstagung, auf der eine gemeinsame Linie in der deutschen Frage abgestimmt wurde, war dies obsolet. Bush, der anfänglich Misstrauen gegenüber Kohl hegte, ebnete – trotz aller Widerstände, vor allem aus London und Paris – den Weg. Nach dem Muster des Ksze-prozesses sollte eine Konferenz die äußeren
DBedingungen der deutschen Einheit regeln.
Wie reagierte man im Kreml darauf? Zunächst gar nicht. Erst Ende Jänner 1990 versammelte Gorbatschow die wichtigsten Politbüromitglieder und Deutschland-experten bei sich. Er ging davon aus, dass ein Vereinigungsprozess „zumindest für einige Jahre hinausgezögert werden“könne, nicht zuletzt aufgrund der „Truppenpräsenz in Ostdeutschland“. Gorbatschow war grundsätzlich nicht gegen eine Wiedervereinigung, versuchte aber, Vorteile daraus
zu ziehen, um vor allem die lauter werdenden Kritiker seiner Politik zu besänftigen. Unterstützt sah er sich dabei von Frankreich, das, wie er sagte, „keine Wiedervereinigung will“, und von Großbritannien, das „sich vor einer Degradierung auf den Rücksitz fürchte“. In Margaret Thatcher und François Mitterrand sah er nützliche Partner, um „jene zu bändigen, die in großer Eile sind“. Den Deutschen gestand er aber das Recht der Selbstbestimmung zu.
Im Februar fand in Ottawa die „Open Skies“-konferenz Das eigentliche Thema: Abrüstung von Kampfflugzeugen und Mittelstreckenraketen. Aber in den Korridoren und abseits der Tagung wurde über die Deutschen debattiert. Darauf war die sowjetische Delegation nicht vorbereitet. Schewardnadse warnte vor einer Nato-mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands und plädierte für Neutralität. as wies der britische Außenminister Douglas Hurd zurück: Dann wäre das mächtigste Land in Europa neben der UDSSR durch nichts und niemanden gebunden. Es
Dmüsse auch im Interesse Moskaus sein, dies zu unterbinden. Doch einigte man sich in Kanada auf den Zwei-plus-viermechanismus, der am 4. Mai in Bonn startete. Bereits hier wurde die sowjetische Position aufgeweicht. Man könne den Prozess beenden und erst dann die Bündnisfrage erörtern, so Schewardnadse. Parallel dazu bat Gorbatschow Kohl um Hilfe. Es ging um Milliardenkredite. In geheimer Mission reiste Teltschik mit Bankern nach Moskau.
Auf dem Gipfel in Washington Ende Mai 1990 verlautbarstatt. te Gorbatschow überraschend, dass alle Staaten das Recht hätten, eine Bündniszugehörigkeit frei zu wählen. Dies war die erste Zusage in der Nato-frage. In den USA wurde die Aussage geheim gehalten, in deutsche Medien sickerten Spekulationen durch. In der Sowjetdelegation gab es Aufregung: Falin war geschockt. Gorbatschows Assistent Anatoli Tschernjajew wurde wutentbrannt in die Mangel genommen. Doch selbst er fand keine Erklärung, warum sich Gorbatschow plötzlich eindeutig positionierte. er Durchbruch wurde zwischen Kohl und Gorbatschow in Arkhyz im Vorkaukasus im Juli 1990 erzielt. Schewardnadses Assistent, Tejmuraz Stepanov-mamaladze, war schon im Mai klar, welche Konsequenzen die Einheit haben würde: „Die Vereinigung Deutschlands ist eine Frage des persönlichen Schicksals“Gorbatschows und Schewardnadses. „Den Einigungsprozess kann man leicht als Untergrabung der Sicherheit der UDSSR auslegen.“Der Sieg über Deutschland 1945 hätte die Sowjetunion zur Weltmacht gemacht. „Ein Verlust dieses Status wird weder Gorbatschow noch Schewardnadse verziehen werden.“Beide versuchten, in den Verhandlungen ihr Maximum herauszuholen. Mit der Hoffnung, die Sowjetunion werde in eine neue Sicherheitsstruktur gleichberechtigt eingebunden. Daran konnten sie nur scheitern.
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