Jung, motiviert und ostdeutsch
Was die DDR in 40 Jahren nicht geschafft hat, ist in den 30 Jahren Einheit von allein entstanden: eine ostdeutsche Identität. Aber wieso ist das so?
Seine größte Fehleinschätzung über die Wiedervereinigung sei das lange Nachwirken der DDR in den Köpfen der Menschen. „Ich dachte, die nächste Generation ist nicht mehr ostdeutsch“, sagt Gregor Gysi der Kleinen Zeitung anlässlich des heutigen 30. Jahrestages der deutschen Einheit. „Und jetzt ist ein ostdeutsches Selbstbewusstsein entstanden, das ich manchmal ganz falsch finde, zum Beispiel bei Pegida und so.“Dann fügt er lachend hinzu, eine eigene ostdeutsche Identität habe nicht einmal die Ddr-führung hinbekommen, auch wenn sie es 40 Jahre versucht habe. „Aber es resultiert aus den Fehlern bei der Einheit“, sagt Gysi und zählt das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung bei Grundeigentum auf und die fehlende Wertschätzung für die Lebensleistung der Ddr-bürger.
Der 72-Jährige ist inzwischen selbst so etwas wie eine historische Figur. Einst Sedmitglied und Anwalt von Oppositionellen, führte er als Chef die einstige Staatspartei DDR in das neue demokratische System und versucht, sie seit 30 Jahren vom Image der postkommunistischen und stasibelasteten Schmutzgruppierung zu befreien. Über alle Parteigrenzen ist er heute als scharfsinniger und unterhaltsamer Rhetoriker geschätzt.
Doch woher kommt diese ostdeutsche Identität 30 Jahre nach der staatlichen Einheit? Wieso sagen viele Menschen, deren Geburtsjahrgänge nach dem Mauerfall datieren, noch immer von sich, sie seien ostdeutsch geprägt? Was ist typisch Ossi und Wessi? Eine ganze Garde von Sozialwissenschaftlern und Historikern beschäftigt sich seit Jahren mit diesen Fragen. ie Journalisten Jana Hensel, 1976 in Leipzig geboren, sieht wie Gysi im fehlgeschlagenen Transformationsprozess eine Ursache: Die ostdeutsche Identitätsbildung „bleibt die defizitäre, die nachrangige, die marginalisierte und oft auch einfach jene, die schlicht übersehen wird“. Hensel hat mit dem Kultursoziologen Wolfgang
DEngler das Buch „Wer wir sind: Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein“geschrieben. Ihr Interviewband wurde im Vorjahr zum Bestseller.
Doch stimmt dieses einheitliche Opfernarrativ? Der Erfurter Historiker Patrice Poutrus widerspricht: „Schon in der DDR machte es einen Unterschied, ob Frau oder Mann aus Ostberlin, aus dem Thüringer Wald, der Sächsischen Schweiz, der Börde, dem Havelland, dem Oderbruch, von der Mecklenburger Seenplatte oder der Ostsee kam, und das ist heute in Ostdeutschland kaum anders“, schreibt der Zeitgeschichtler im Aufsatz zur Einheitsfeier. Poutrus wurde 1961 als Sohn einer deutschen Mutter und eines sudanesischen Vaters in Ostberlin geboren und lehrt heute in Thüringen. Die politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Unterschiede vor und nach der friedlichen Revolution würden zusätzlich dazu beitragen, dass Personen den Transformationsprozess unterschiedlich erlebt hätten. Denn, so erder innert Poutrus, es sei bedrückend, dass diese Erzählung über Ostdeutsche Geflohene und Ausgebürgerte nicht einschließen würde. Er sehe im Überstülpen dieser Identität als Gruppennorm die Gefahr, andere auch in Zukunft auszugrenzen. Diese „Neo-ostalgie“, die einen Gegensatz erzeuge, sei daher für ihn ein Versuch, die komplexe Gemengelage der Gegenwart einzugrenzen, für die es keine simplen Antworten gibt.