Wiener Gemütlichkeit
Dass Michael Ludwig die Wien-wahl gewinnen wird, liegt auch an der Konkurrenz. Nach der Wahl muss die Stadtregierung raus aus der Komfortzone.
Eigentlich will Wien ja „Digitalisierungshauptstadt“sein, doch in diesen Wochen reicht es nur zur Papierhauptstadt. Und das liegt nicht nur an den Hunderttausenden Wahlkarten, die im Vorfeld der Wien-wahl ausgestellt werden. Zettelwirtschaft herrscht in den Kaffeehäusern, wo jeder Gast ein Formular fürs Contact Tracing ausfüllen muss. Zettelwirtschaft herrscht auch auf den Gesundheitsämtern, wo Hunderte Mitarbeiter telefonisch erfragen, mit wem Menschen, die positiv auf das Coronavirus getestet wurden, zu tun hatten. Händisch gleichen sie Formulare ab und stellen Absonderungsbescheide aus. Digitale Lösungen könnten beide Prozesse beschleunigen und Nerven und Geduld entlasten. Doch so weit ist Wien nicht. In der Coronakrise zeigt der Wiener Verwaltungsapparat seine Schwächen.
Trotzdem wird Bürgermeister Michael Ludwig am Sonntag als großer Wahlsieger hervorgehen. Das liegt auch an seinen Herausforderern: Die Grünen, seit zehn Jahren Juniorpartner der SPÖ in Wien, preschen mit Einzelprojekten vor – von Begegnungszonen über einen Pool auf der Hauptverkehrsader –, die oft nur temporär sind. Spitzenkandidatin Birgit Hebein ist ausgelastet damit, die Entscheidungen der Bundesregierung vor ihrer eigenen Wählerschaft zu rechtfertigen. Einen breiten Bogen zwischen der linken Basis und potenziellen bürgerlichen Wählern zu spannen, gelingt ihr nicht.
Die ÖVP schickt mit Gernot Blümel einen Mann ins Rennen, der als Finanzminister weder Zeit für den Wahlkampf noch glaubhafte Ambitionen in der Stadtpolitik hat. Seine Kritik an der „verfehlten Integrationspolitik“findet außerhalb der Stadtgrenzen mehr Zuspruch als unter Wienern, für die kulturelle Vielfalt zum Alltag gehört. Dass sich die Türkisen in Wien trotzdem verdoppeln werden, liegt am historisch niedrigen Ausgangsniveau und am Erfolgskurs von Sebastian Kurz.
Die Neos setzten auf einen weitestgehend unbekannten Spitzenkandidaten und einen sehr bunten Mix aus linksliberalen Themen. Und Dominik Nepp von der FPÖ, die zuletzt 30 Prozent erreicht hatte, duelliert sich in einem ausländerfeindlichen Wahlkampf mit seinem einstigen Ziehvater Heinzchristian Strache. udwig lehnt sich angesichts der Konkurrenz komfortabel zurück. Gebettet auf historische Errungenschaften der Sozialdemokratie, gepolstert mit guten Umfragewerten, verlässt er seine Komfortzone nicht. Von progressiven Themen – Arbeitszeitverkürzung, Verkehrsberuhigung, mehr demokratische Teilhabe für die Wiener Bevölkerung, von der ein Drittel nicht wahlberechtigt ist – lässt er bewusst die Finger. Stattdessen setzt er auf die Themen, die die SPÖ in Wien groß machten: Wohnen, Arbeit, Gesundheit. Diese Themen beschäftigen die Menschen immer noch. In der Zwischenzeit sind aber ein paar mehr dazugekommen. Nach der Wahl sollte der neue, alte Bürgermeister sich auch um sie kümmern.
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