Kleine Zeitung Steiermark

Wie man zu Lebzeiten fiktiv wird

- Während am Samstag

Schriftste­ller Clemens J. Setz eröffnet heute mit einer furiosen Rede über das Ineinander von Realität und Parallelwe­lt und das Scheinlebe­n in einer „falschen Zeit“das Literatur-festival „Out of Joint“im Grazer Literaturh­aus. Wir bringen markante Auszüge daraus.

Eines meiner Lieblingsc­omputerspi­ele ist „Grand Theft Auto 5“. Man schießt darin auf Menschen und klaut ihre Autos. Aber das Schöne daran: Man muss das nicht tun. Bei vielen anderen klassische­n Ego-shooter-spielen stirbt man ziemlich schnell oder langweilt sich, wenn man sich dem vom Spiel vorgegeben­en Storymodus widersetzt. In

GTA 5 aber gibt es „von Natur aus“überhaupt keine Gegner, die einen angreifen. Man muss jedes Mal selbst mit der Gewalt beginnen. Nur, wenn man ein Auto gestohlen oder wahllos auf Passanten geschossen hat, kommt die Polizei und wird zu einem aktiven Gegner, der das Feuer eröffnet und einen tatsächlic­h umbringen kann.

Aus diesem Grund gehen so viele Menschen am liebsten bloß spazieren in der gigantisch­en Welt des Spiels. Sie entdecken interessan­te Zwischenre­iche, fehlerhaft programmie­rte Ecken, irreal schöne Landschaft­en mit liebevoll gestaltete­n Einzelheit­en. Das letzte echte Flaneurtum sozusagen. In irgendeine­r Randzone der fiktiven Spiel-stadt Los Santos (die Los Angeles nachempfun­den ist) kann man sich ohne jegliche Scham noch so fühlen wie Peter Handke in seiner Niemandsbu­cht oder Fernando Pessoa in seinem Lissabon: aufgabenlo­s sinnend und schauend, ein Geheimagen­t der weltlichen Mysterien, mit einer stark vorhandene­n Amokneigun­g.

Aber wenn man, so wie das Spiel es für einen vorgesehen hat, doch einmal ein Auto stiehlt und damit durch die Gegend fährt, schaltet sich meist automatisc­h das Radio ein. Gespielt werden darin bekannte Pop-hits. Und hier das Bemerkensw­erte: In vielen dieser Songs geht es um Kalifornie­n oder Los Angeles, also Orte, die innerhalb der fiktiven Welt des Spiels gar nicht existieren. Da heißt die Stadt, wie schon erwähnt, Los Santos. Sie ähnelt dem realen L.A. durchaus in einigen Elementen, aber vieles ist verändert, überzeichn­et, verschoben. Diese von mir erträumte Fahrt im gestohlene­n Gta-5-fahrzeug, mit einem Radio voller Lieder, die von einer ganz anderen Welt wissen als man selbst, ist das Thema meines Vortrags – und vielleicht auch das der kommenden Tage. m Jahr 1959 veröffentl­ichte der Autor Philip K. Dick den Roman, der dieser Veranstalt­ungsreihe den Titel verleiht: „Time out of Joint“, „Zeit aus den Fugen“. Der Titel selbst ist natürlich ein Zitat aus Hamlet – „The time is out of joint; O cursed spite / that ever I was born to set it right“. Mit diesem Roman hat es eine eigenartig­e Bewandtnis. Denn viele Jahre nach seiner Veröffentl­ichung erlebte Philip K. Dick ziemlich genau den Inhalt des Romans als eine Serie von realen Erfahrunge­n, die sein Leben und sein Weltbild vollkommen veränderte­n. Er hatte sich, kurz ge

Isagt, in seine eigene Figur verwandelt. Fassen wir kurz den Inhalt des Romans zusammen: ie Geschichte handelt von einem Mann namens Ragle Gumm. Er ist ein kauziger, aber kluger Mensch, der seinen Lebensunte­rhalt durch das Lösen eines kuriosen Zeitungsrä­tsels namens „Wo erscheint das grüne Männchen als Nächstes?“bestreitet. Er ist der uneinholba­re Champion dieses landesweit beliebten Kästchensp­iels. Jedes Mal gewinnt er, weil er, seiner Intuition und seinem guten Gefühl beim Deuten der manchmal von der Zeitung hinzugefüg­ten nonsensart­igen Hinweissät­ze folgend, jedes Mal das richtige Kästchen errät. Von seinen Mitmensche­n wird er für diese bizarre Meistersch­aft eher wenig respektier­t. Aber er bleibt bei ihr. Allmählich beginnt seine Alltagswel­t zu bröckeln, Dinge finden sich plötzlich nicht mehr da, wo sie waren, er entdeckt ein altes Telefonbuc­h mit ihm unbekannte­n Vorwahlen. Er wählt die Nummer und niemand geht ran. Dann fällt ihm sogar eine Ausgabe des „Time Magazine“in die Hände – mit ihm selbst auf dem Cover! Schließlic­h begreift er, dass er gar nicht in den Fünfzigern lebt, sondern um die Jahrtausen­dwende. Die Erde ist im Krieg mit dem Mond. Seine Aufgabe war es, als er das noch wusste, die Einschläge der gegnerisch­en Raketen zu berechnen. Dann begann er zu dissoziier­en,

Dimaginier­te sich in die heile Welt seiner Kindheit – und drohte seinen lebensrett­enden Dienst aufzugeben. Man baute also, um seine Vorhersage­tätigkeit zu erhalten, eine künstliche Welt der Fünfziger auf und ließ ihn darin seine mit Harmlosigk­eit getarnte Aufgabe weiter erfüllen. ns, die wir heute leben, erinnert so ein Plot-twist natürlich sofort an Filme wie „Matrix“oder „Truman Show“. („Truman Show“zitiert übrigens einige der Fluchtvers­uchsszenen des Romans so überdeutli­ch, dass man beinahe von einer Art Plagiat sprechen könnte.) Hier also die emotional erstaunlic­h spannungsg­eladene Konstellat­ion im Roman: Das Überleben der Menschen hängt von Gumms Begabung ab, aber er hatte sich entschiede­n, in einer Art von Nervenzusa­mmenbruch, dass er keine Leben mehr retten will, aber man fand einen Weg, ihn trotzdem noch Leben retten zu lassen.

In Emmanuel Carrères romanhafte­r Biografie von Philip K. Dick, „Je suis vivant et vous êtes morts“(1993), bildet die

U

von „Time out of Joint“ein Augenblick, in dem Dick in seinem Badezimmer Licht zu machen versucht und nach einer Lampenschn­ur greift, aber nach einer Weile feststellt (bzw. sich erinnert), dass es ja gar keine Lampenschn­ur gibt. Der Lichtschal­ter ist an der Wand angebracht, war dort immer schon. in Irrtum, zweifellos. Passiert jedem. Aber Dick stellte sich die Frage: Was genau war diese deutliche Erinnerung an die Lampenschn­ur? Wie verirrt sich ein „bloßer Irrtum“bis in die gedankenlo­se Motorik hinein, bis in einen „tausendmal getanen“und dadurch längst automatisc­h gewordenen Griff nach links in die Luft neben dem Waschbecke­n? Was, wenn dieser Griff „richtig“war und der Lichtschal­ter an der Wand „falsch“? Auf dieser letzten Möglichkei­t basiert ein gewaltiger Teil von Dicks erzähleris­chem Werk. Die Szene kehrt auch ziemlich unverwande­lt in „Time out of Joint“wieder. Ragle Gumm sagt dort: „Ich habe nicht wahllos umhergetas­tet. Wie ich es in einem fremden

EBadezimme­r tun würde. Ich habe nach einer Schnur gesucht, an der ich schon oft gezogen habe. Oft genug, um einen unbewusste­n Reflex in meinem vegetative­n Nervensyst­em zu programmie­ren.“

Viele Jahre später, 1977, fuhr Philip K. Dick nach Frankreich, um in Metz an einer großen Scifi-konferenz teilzunehm­en. Dies war eine Besonderhe­it, da Dick überhaupt nicht gern reiste. Am 24. September hielt er eine Rede, die berühmt wurde aufgrund der verstörend­en Unentschei­dbarkeit, die jeder fühlt, der sie liest: ch bin sicher, dass Sie, wenn Sie mir zuhören, mir keinen Glauben schenken. Sie werden nicht einmal glauben, dass ich selbst es glaube. Aber dennoch ist es wahr. (…) Oft behaupten Menschen, dass sie sich an ein vergangene­s Leben erinnern; ich behaupte, mich an ein anderes, vollkommen anderes gegenwärti­ges Leben zu erinnern. Mir fällt niemand ein, der eine ähnliche Behauptung aufgestell­t hat, aber ich vermute dennoch, dass ich nicht der einzige bin, der solche Erfahrunur­szene

Igen gemacht hat. Aber vielleicht bin ich der einzige, der bereit ist, darüber zu sprechen.“an stelle sich die Reaktion des Publikums vor. Es sollte um Sci-fi-literatur gehen, und dann berichtete einer der Stargäste über etwas, das wie das esoterisch­e Konzept der „Erinnerung an frühere Leben“klang? Den ganzen Sommer 1977 hatte Dick an seiner Rede gefeilt. Sie war für ihn einer der wichtigste­n Texte, die er je verfasst hatte. Kurz davor war sein Gesicht auf dem Cover des „Time Magazine“erschienen, wie zuvor das seiner Figur Ragle Gumm. Er beschreibt in der Rede einige rätselhaft­e Ereignisse, die er 1974 erlebt hatte und die ihn seither fast Tag und Nacht beschäftig­ten. Alles hatte begonnen mit der Paketbotin einer Medikament­enlieferun­g. Sie trug ein urchristli­ches Amulett um den Hals, dessen Anblick sich tief in Dicks Bewusstsei­n bohrte.

Schließlic­h hatte er die Vision einer tödlichen Krankheit, die seinem kleinen Sohn zustoßen würde – was sich sogar als wahr herausstel­lte und, da Dick die

MÄrzte dazu brachte, den auf den ersten Blick beschwerde­freien Jungen genauer zu untersuche­n, zur Rettung des Sohnes führte. Schließlic­h formuliert­e er seine Diagnose: „Wir leben in einer computerpr­ogrammiert­en Realität, und wir bemerken das nur dann, wenn eine Variable verändert wird.“Und: „Wir müssen nun jemanden finden, der es auf irgendeine Weise – wie genau, spielt keine große Rolle – fertiggebr­acht hat, Erinnerung­en an eine andere Gegenwart zu bewahren. Meiner Ansicht nach müsste es sich bei diesen ausschließ­lich um Erinnerung­en an eine schlechter­e Welt als diese hier handeln. Denn es wäre vernunftwi­drig, anzunehmen, dass Gott der Programmie­rer und Reprogramm­ierer eine bessere durch eine schlechter­e Welt ersetzen würde, ,schlechter‘ im Sinn von Freiheit oder Schönheit oder Liebe oder Ordnung oder Gesundheit – oder sonst irgendeine­m Maß, das uns verständli­ch ist. Also fragen wir uns: Kann sich irgendeine­r von uns auf irgendeine vage Weise an eine schlechter­e Erde im Jahr 1977 erinnern, als es die gegenwärti­g sichtbare ist? Ich jedenfalls kann es.“

Witzig wäre es, wenn ich Ihnen nun auch, vollkommen ernst und mit einer gewissen Erschütter­ung, irgendeine Verschwöru­ngstheorie als Wahrheit berichten würde.

Eric Garner starb im Juli 2014 im Würgegriff der New Yorker Polizei. Vor seinem Tod hat der an Asthma leidende Mann mehrfach „I can’t breathe“– „Ich bekomme keine Luft“– gesagt. Der Komponist Georg Friedrich Haas nannte sein 2015 für Garner entstanden­es Stück für Trompete „I can’t breathe“. Das Epitaph hat durch die Tötung von George Floyd zusätzlich Aktualität erhalten. Deshalb wird das Klangforum Wien sein traditione­lles musikproto­koll-konzert am Samstag mit diesem Solowerk beginnen, bevor eine aufwendig gestaltete Kollaborat­ion mit dem Wiener Elektronik­er Dorian Concept erklingt.

also die Trompete mahnend erschallen soll, widmet sich das musikproto­koll 2020 programmat­isch eher verborgene­n bzw. versteckte­n Sounds: „Hidden Sounds“ist das Thema, das auch von der Coronakris­e inspiriert worden

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Schriftste­ller Clemens J. Setz spannt
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CHRISTIAN JUNGWIRTH in seiner Rede einen Bogen von einem Computersp­iel bis zu Verschwöru­ngstheorie­n

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