Kleine Zeitung Steiermark

Wie man zu Lebzeiten fiktiv wird

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übernehmen oder zumindest als Grundhaltu­ng für das Geschichte­nerfinden? „In Wahrheit lebe ich in einer ganz anderen Zeit.“Solange man es dabei belässt, kann diese Ansicht Würde und Zauber verleihen. Die Zutat, die das Ganze meist vergiftet, ist der unsichtbar daran hängende Rest des Hamletzita­ts: „that ever I was born to set it right“, also dass ich geboren wurde, um sie, die aus den Fugen geratene Zeit, wieder geradezurü­cken. s ist unklar, ob Philip K. Dick sich selbst als „born to set it right“empfunden hat. Einige Aktivitäte­n seiner späten Lebensjahr­e sprechen dafür, andere eher dagegen. Aber er beschäftig­te sich obsessiv mit der Parallelwi­rklichkeit, die ihm andauernd aus den Ritzen und Fugen des kalifornis­chen Alltags der Siebzigerj­ahre entgegenzu­strahlen schien. Die andere Welt stand im rechten Winkel zu dieser (in der Rede nennt er sie sogar explizit „orthogonal time“).

Ich glaube, unsere gesamte gegenwärti­ge Geisteswel­t ist, zumindest in dieser Hinsicht, Philip-k-dick-fan-fiction. Verschwöru­ngstheoret­iker leben fleißig nach einer Vorstellun­g von Orthogonal­zeit, nach einem immerwähre­nden und nie auflösbare­n „Es mag wie X aussehen, aber in Wirklichke­it ist es Y“und dem daraus folgenden Erwähltsei­n für die Aufgabe, den notwendige­n Ausstieg aus der „falschen“Zeit auch anderen zu ermögliche­n. Man könnte nun der Meinung sein, die Menschen sollten ihre „born-to-set-it-right-ness“ablegen. Aber das Klima. Die Seuche. Die Ungerechti­gkeit. Das Leid. Sollte es vielleicht mehr Leute geben, die sich „born to set it right“vorkommen?

Sollte Literatur, so wie es Dick in seiner Rede gegen Ende

Esuggerier­t, bei jenen, die sie lesen, wirklich „Erinnerung­en an Parallelwe­lten“wecken? Wäre das eine ermächtige­nde Utopiemühl­e, oder liefe man dadurch eher Gefahr, in seiner Leserschaf­t Phantom-ressentime­nts und Landkarten von Scheinunte­rdrückung zu erzeugen? Ist es nicht schon zu oft vorgekomme­n, dass, nach langer friedliche­r Koexistenz, sich Völker mitten in Europa urplötzlic­h kollektiv an erlittene Unterdrück­ungen durch ein anderes Volk erinnern zu können glaubten, und dann zu den Waffen griffen?

Die Welt mit einem Philip K. Dick darin ist eine Sache. Aber lauter Philip K. Dicks, Hunderttau­sende, als vorerst noch friedvolle Schläferme­hrheit, die nur auf ihre Aktivierun­g wartet? Zu welcher Poesie und zu welcher Tollwut wird eine solche Masse fähig werden? ber mir fällt auf, dass ich bis jetzt den Titel von Dicks Rede unterschla­gen habe. Er lautet: „If You Find This World Bad, You Should See Some of the Others“. Wenn ich diesen Titel lese, stelle ich mir jemanden vor, der in einer Buchhandlu­ng zuerst auf den Boden deutet: if you find this world bad, und dann auf die Tausenden Bücher ringsum in den Regalen: you should see some of the others. Aber nicht immer, das heißt, nicht immer denke ich mir diese Gesten in dieser Reihenfolg­e.

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