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Flugblatt der Religionskriege gilt nun wieder das Prinzip der Anonymität – und der großen Verantwortungslosigkeit.
Die gesetzlichen Regelungen aus der Zeit vor dem Internet werden kaum auf im Internet begangene Taten angewendet, weil die Justiz schon aufgrund der Menge überfordert ist. Was soll man tun, wenn, wie letztes Jahr, eine Bundesministerin mit Migrationshintergrund angelobt wird und binnen weniger Tage in sozialen Medien mindestens 25.000 Postings mit vermutlich strafrechtlicher Relevanz abgesetzt werden? Wie
geboren 1968 in Graz, ist seit April 2018 Mitglied der Konzerngeschäftsleitung der deutschen Bauer Media Group. Zuvor leitete er als CEO die Nzz-mediengruppe. Gemeinsam mit Matthias Strolz gründete er 2012 die liberale Partei Neos.
mit dieser Situation umgehen, die das demokratische Fundament – die offene Kommunikation – unterspült? Hier sind ein paar praktische Vorschläge: Es ist ein folgenschwerer Irrtum, zu glauben, dass die Meinungsfreiheit auch die Freiheit zur Anonymität umfasst. Klarnamen legen die Identität des Senders offen und können durch eine Ausweispflicht bei der Eröffnung eines Kontos auf einem sozialen Medium dokumentiert werden. Klarnamen werden keine Manieren erwirken: Menschen wie Scott Adams ist es offensichtlich egal, wenn sie öffentlich pöbeln, auch wenn sich deren Eltern oder Kinder oft schämen werden. Die Anonymität ermöglicht aber Manipulation und unterläuft das Prinzip der Verantwortung; ohne Verantwortung kann jeder Diskurs kippen. Der Mittwoch zeigte, was passiert, wenn er kippt: „Debatten“wie die zwischen Donald Trump und Joe Biden. Zu wenig am Radar der Justiz sind Nutzerkonten in sozialen Medien; das sollte sich ändern. Man kann die nicht mehr funktionierende Unterscheidung von privat/öffentlich durch jene von einmalig/wiederholt ersetzen. Konten, auf denen wiederholt strafrechtlich relevante Äußerungen getätigt werden, könnten gesperrt und bei weiterer einschlägiger Betätigung gelöscht werden. Natürlich könnten die Kontoinhaber wieder ein neues Konto eröffnen, dieses hätte jedoch anfangs keine Follower, wäre also zunächst weniger wirkungsvoll. Die
Plattformen sollten für jedes gesperrte Konto eine Strafe zahlen. Das würde als Nebeneffekt die Justizbehörden weiter entlasten, da dadurch ihr Eingreifen höchstwahrscheinlich seltener notwendig wäre. Das würde große Quellen strafrechtlich relevanter Postings immer wieder austrocknen.
Soziale Medien müssen rechtlich mit traditionellen Medien gleichgestellt werden. Diese Forderung ist nicht neu, wird aber von Facebook, Youtube & Co. vehement und bisher mit Erfolg bekämpft. Diese Firmen wollen sich nur selbst regulieren, auf eine Art, die für alle Länder gilt, in denen sie genutzt werden, und vom konkreten Recht der einzelnen Staaten unabhängig ist. Facebook, zum Beispiel, hat sich selbst ein prominent besetztes Oversight Board verpasst, um sich selbst Regeln zu verpassen, deren Einhaltung es selbst prüft. Dass das nicht funktionieren kann, liegt auf der Hand. as sind, aus der Defensive gespielt, nötige Maßnahmen, damit der öffentliche Diskurs in Demokratien nicht vollends aus den Fugen gerät. Bleibt die Frage, wer denn diese Regeln festlegen soll. Die Schaffung einer globalen Institution ist nicht realistisch; sie ist für demokratische Länder auch nicht wünschenswert. Nationalstaatliche Maßnahmen haben begrenzte Wirkung – im Wortsinn. Daher muss die EU die Regulierung der sozialen Medien für sich wahrnehmen und auch durchsetzen.
D
Die „Sicherheitsdekrete“waren die Grundpfeiler der migrationsfeindlichen Politik von Ex-innenminister Matteo Salvini in Italien.
2018 und 2019 verfügte der Chef der rechten Lega und stellvertretende Ministerpräsident das Verbot der Hafen-einfahrt von Schiffen, die Flüchtlinge im Mittelmeer aufgegriffen hatten.
Die betreffenden Nichtregierungsorganisationen (NGO) mussten sich auf die Beschlagnahmung ihrer Boote gefasst machen. Auf die Verantwortlichen warteten drakonische Strafen in Höhe von bis zu einer Million Euro. Viele Italiener applaudierten Salvini für diese Gnadenlosigkeit, andere waren fassungslos angesichts der „Politik der geschlossenen Häfen“.
Die seit 13 Monaten amtierende Nachfolgeregierung hat nun nachgebessert. In einem Gesetzesdekret, das innerhalb von 60 Tagen vom Parlament bestätigt
„Weder geschlossene noch offene Häfen“, sagte Conte in einer ersten Stellungnahme, „sondern mehr Einklang mit der Verfassung und Sicherheit“.
Staatspräsident Sergio Mattarella sowie der Verfassungsgerichtshof hatten die Salvini-dekrete als unverhältnismäßig kritisiert und Nachbesserungen verlangt. Insbesondere der linke Partito Democratico (PD) hatte vor der Regierungsbildung vor gut einem Jahr die Veränderung der Gesetze zur Bedingung für eine Koalition mit der Fünf-sterne-bewegung (M5S) gemacht.
Den neuen Regelungen waren monatelange Verhandlungen vorausgegangen. Innenministerin
Luciana Lamorgese (parteilos), frühere Polizeipräfektin von Mailand, verhandelte monatelang zwischen PD und Fünf-sterne-bewegung.
Die vom Komiker Beppe Grillo gegründete und inzwischen völlig zerstrittene Bewegung hatte sich lange gegen die Aufweichung der sogenannten Sicherheitsdekrete gewehrt. Sterne-politiker befürchteten mit einem Umschwung in der Migrationspolitik bei den Wählern unglaubwürdig zu erscheinen. Die bei den Regionalwahlen vor zwei Wochen gestärkten Sozialdemokraten setzten sich in den Verhandlungen auch mit anderen Forderungen durch.
Migranten können aus Italien fortan auch dann nicht mehr abgeschoben werden, wenn ihnen im Heimatland „unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen“drohen – bisher war dies nur der Fall, wenn ihnen Folter droht. Die Erteilung von Arbeitsgenehmigungen
für Migranten sowie die Einbürgerung sollen erleichtert werden.
Die 13-monatige Amtszeit der Koalition aus Lega und Fünfsterne-bewegung mit Innenminister Salvini war geprägt von der Verschärfung des Asylrechts und der Kriminalisierung von Hilfsorganisationen.
So erzwang die deutsche Kapitänin Carola Rackete im Juni 2019 die Landung der „Seawatch 3“mit 40 geretteten Migranten auf Lampedusa und wurde dafür strafrechtlich verfolgt. Letztlich wurde sie aber freigesprochen.
Salvini selbst ist derzeit in Catania wegen Freiheitsberaubung und Amtsmissbrauch angeklagt, weil er im Juli 2019 dem Schiff der Küstenwache Gregoretti mit 131 aus Seenot geretteten Migranten die Einfahrt in den Hafen verweigerte. Premier Conte soll am 20. November als Zeuge aussagen.