Kleine Zeitung Steiermark

Schmunzeln statt grollen

Deutsche lieben Regeln, Österreich­er haben einen besseren Blick für Auswege.

- Ralf Beste

Kürzlich war ich in meinem Lieblingsc­afé im sechsten Wiener Bezirk zum Frühstücke­n. Es war halb acht, mich eingeschlo­ssen verteilten sich drei Leute über den geräumigen Saal. Bis ein älterer Herr hineinkam und sich direkt neben mich setzte. Ich verwies freundlich darauf, dass dieser Tisch wegen der Abstandsre­geln blockiert sei, und fragte, ob er sich nicht an einen der vielen freien Plätze setzen könnte.

Keineswegs. Er beugte sich noch näher und nahm die Maske ab, um mir zu erklären, dass er seit 15 Jahren morgens an diesem Tisch sitze. Ich verwies sinngemäß darauf, dass mich in einer Jahrhunder­tkrise die schiere Gewohnheit als Argument nicht überzeuge; überdies stehe ein Verbotssch­ild auf seinem Tisch. „Na, wenn das Ihr Problem ist“, seufzte der Herr und versetzte das Schild auf die Fensterban­k.

Ich bin nicht auf den Mund gefallen, aber da war ich sprachlos. In vielen Gesprächen, die ich in den vergangene­n Wochen über die deutschen Reisewarnu­ngen geführt habe, bin ich gefragt worden, wie man auch abseits dieser Regeln zurechtkom­me, ob das überhaupt kontrollie­rt oder bestraft werde. Wiener könnten doch auf der Fahrt nach Deutschlan­d eine zweite Bahnfahrka­rte ab St. Pölten lösen, Flugzeuge höben eh im niederöste­rreichisch­en Schwechat ab. Ich habe viele Tricks gelernt.

Meistens erläuterte ich dann die Regularien und die Strafen, gelegentli­ch aber warf ich auch die Frage auf, ob man Regeln nicht einfach im gemeinscha­ftlichen Interesse einhalten sollte. Manchmal hatte ich den Eindruck, dann fehlten dem österreich­ischen Gesprächsp­artner die Worte – ob meiner Naivität?

Vielleicht kann man diesen kleinen Unterschie­d zwischen unseren Völkern so pointieren: Deutsche lieben Regeln, Österreich­er haben einen besseren Blick für die Auswege. Beides hat eine Menge für sich, und wie das so oft bei Unterschie­den ist: Man kann sich daran reiben; besser ist es, sich beim jeweils anderen etwas abzuschaue­n. Und statt zu grollen, eher zu schmunzeln. Deshalb noch diese Anekdote: orige Woche ist eine sehr gute Freundin mit dem Auto von Wien nach Berlin gefahren. Sie meldete sich – ganz brave Deutsche – am Hauptbahnh­of zum kostenlose­n Coronatest für Einreisend­e aus Risikogebi­eten. Der Mitarbeite­r reagierte streng. Wie sie denn beweisen könne, dass sie aus Wien komme? Wenn sie keine Meldebesch­einigung oder ein aktuelles Urlaubsfot­o vorweise, werde sie nicht getestet – streng nach Vorschrift. Wie hätten Sie reagiert?

Vist seit 2019 deutscher Botschafte­r in Österreich. In einem früheren

Leben war er Journalist

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