Das Virus Zermürbung
Die Regierung appelliert an das Zusammengehörigkeitsgefühl, das im Frühjahr bei der Bekämpfung des Virus so wichtig war. Aber die Stimmung hat sich gewandelt.
Monatelang schien die Ausbreitung des Virus unter Kontrolle. Die Zahlen stiegen zwar wieder langsam an, aber gestorben ist in den letzten Wochen in Österreich fast niemand mehr an der tückischen Krankheit. Der Vorwurf, hier werde aus politischem Kalkül (welchem eigentlich?) Panik verbreitet, begleitete jede neue Warnung zur Vorsicht. Es schien ja sehr plausibel, die Dinge ein bisschen lockerer zu nehmen nach dem unheimlichen Frühjahr und dem Sommer der eingeschränkten Freiheiten. Auf lange Sicht ist schwer auszuhalten, was an Zurückhaltung, unnatürlichem Verhalten und echtem Arbeitsleid von den Menschen verlangt wurde.
Nun zeigt sich, was die schärfste Waffe dieses Virus ist: die Zermürbung seiner potenziellen Opfer. Befristet einschneidende Maßnahmen mitzutragen, wird niemand als unzumutbaren Beitrag empfinden. Zu Beginn lag sogar ein Hauch von Abenteuer über dem Land, als plötzlich Routinen und Selbstverständlichkeiten, die unser Leben zuvor geprägt hatten, für ein paar Wochen außer Kraft gesetzt waren. Der Himmel ohne Kondensstreifen sah märchenhaft aus, auch wenn er den Kollaps der Fluglinien ankündigte. Die Stille in den Straßen und Gassen konnte man als paradiesisch empfinden, wäre da nicht die Ahnung vom wirtschaftlichen Absturz gewesen, der unweigerlich auf die Ruhe folgen musste.
Nach über einem halben Jahr des Gesundheitsnotstands wächst der Überdruss. Dass die Infektionszahlen steigen, wird wohl auch damit zusammenhängen. Die fast schon händeringenden Appelle von Gesundheitsminister und Bundeskanzler, die Lage bitte wieder ernster zu nehmen, sind ein verzweifelter Versuch, noch einmal alle Kräfte zu mobilisieren. Wenn Sebastian Kurz den „Zusammenhalt des Frühjahrs“beschwört, „der unser Erfolgsfaktor bei der Abwehr der ersten Welle war“, dann auch deshalb,
Betreff: Über die Zeptosekunde weil nicht mehr viel davon übrig ist. In Politik und Alltag drängt der alte Alltag vehement zurück in unser Leben und lässt keinen Platz mehr für disziplinierende Maßnahmen. Was zu oft gesagt wird, verliert seine Wirkung, auch wenn es nach wie vor Gültigkeit beanspruchen kann.
Ob sich dieses Gefühl, an einem Strang zu ziehen, noch einmal beschwören lässt, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Was passiert, wenn es nicht gelingt, können wir im Nachbarland Tschechien sehen. Einst ein Vorreiter in der Bekämpfung der Ausbreitung des Virus wie Österreich, haben die Tschechen dieser Tage in Bayern um Hilfe bei der Unterbringung ihrer Schwerkranken in Intensivbetten ersucht. Das Beispiel zeigt, wie rasant die Gemütlichkeit ein Ende finden kann. e ernster wir diese Krankheit nehmen, solange sie sich noch nicht unkontrolliert ausbreitet, umso eher lassen sich drastische Maßnahmen vermeiden. Es spricht also alles dafür, geringere Übel in Kauf zu nehmen, solange wir die Lage noch im Griff haben.
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