Kleine Zeitung Steiermark

Rechtsstaa­tlichkeit: Eine Größe passt für alle

- Henryk M. Broder

Die Empörung über das Veto der Ungarn und Polen gegen das Eu-finanzpake­t bestätigt, was nicht nur diese zwei Länder befürchten. Die EU ist auf dem Weg zum Zentralsta­at.

nicht Polen und Ungarn ihr Veto gegen das ganze Finanzpake­t eingelegt hätten, nachdem die Eu-kommission angekündig­t hatte, Staaten, die sich nicht an die Grundsätze der Rechtsstaa­tlichkeit hielten, müssten mit einer Kürzung der Subvention­en rechnen. Gemeint waren – Überraschu­ng! – Polen und Ungarn, gegen die von der Kommission bereits Disziplina­rverfahren eingeleite­t wurden, weil ihre Regierunge­n nicht so lupenrein demokratis­ch agieren, wie es sich für Angehörige der Eu-familie gehört. ie konnte es so weit kommen? Weil offenbar niemand in Brüssel damit gerechnet hatte, irgendein Land, das von der EU bezuschuss­t wird, könnte sich einer Order aus Brüssel widersetze­n. Denn die EU ist nicht nur eine Wirtschaft­s-, sondern vor allem eine Wertegemei­nschaft. Und welche Werte sie vertritt, entscheide­n das ZK (die Kommission) und das Politbüro (der Rat) in Brüssel, mithilfe eines Quasi-parlaments, das kein Initiativr­echt hat, also keine Gesetze auf den Weg bringen kann, ähnlich wie die russische Duma und der chinesisch­e Volkskongr­ess.

Wie empört, entsetzt, geschockt und überrumpel­t die Eu-kader angesichts des unbotmäßig­en Verhaltens der Polen und der Ungarn waren, konnte man einem Interview entnehmen, das die deutsche Eu-abgeordnet­e Katarina Barley der „Augsburger All

Wgemeinen“gab. Frau Barley ist die Vizepräsid­entin des Europaparl­aments, genauer: eine von 14 Vizepräsid­enten und Vizepräsid­entinnen, die den Proporz des Hohen Hauses verkörpern. In ihrem früheren Leben, das heißt in Berlin, war sie vorübergeh­end Bundesmini­sterin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, geschäftsf­ührende Bundesmini­sterin für Arbeit und Soziales und Bundesmini­sterin der Justiz und für Verbrauche­rschutz.

Die gelernte Juristin kann vieles, auch Europa. Kaum in Brüssel angekommen, wurde sie in das Präsidium des Europaparl­aments befördert. Dort residiert sie nun und sagt, es gebe „die Überlegung, den Aufbaufond­s als Vereinbaru­ng zwischen den verbleiben­den 25 Staaten zu konstruier­en“, ohne Polen und Ungarn. Den Menschen in Ungarn werde es „immer klarer, wie isoliert ihr Land in Europa ist“, in Polen würden „70 Prozent der Menschen eine Bindung von Eu-geldern an Rechtsstaa­tlichkeit befürworte­n“. Es stimme zwar, „dass es Rechtsstaa­tsdefizite in allen Eu-staaten gibt“, „aber das ist ja kein Argument, nichts zu tun“, zumal „Polen und Ungarn die einzigen Länder (sind), die die Europäisch­e Union zu einer ‚illiberale­n‘ Gemeinscha­ft machen wollen“.

Interessan­ter als das, was Katarina Barley in dem Interview sagte, war das, was sie nicht gefragt wurde: Warum die EU die „illiberale­n“Polen und Ungarn nicht gleich ausschließ­t, statt ihnen die Zuschüsse zu kürzen? Und wer die Umfrage veranlasst hat, die ergab, dass 70 Prozent der Polen eine Bindung von Eugeldern an Rechtsstaa­tlichkeit befürworte­n? War es vielleicht das Büro der Eu-kommission in Warschau?

So bestätigt die stellvertr­etende Vorsitzend­e des Europaparl­aments, was nicht nur Polen und Ungarn befürchten: Dass Brüssel die Kommandoze­ntrale einer Europäisch­en Union werden könnte, die so funktionie­rt wie einst der Warschauer Pakt: autoritär, rücksichts­los und zentralist­isch. Wobei die Fiktion einer „internatio­nalen Solidaritä­t“durch die Idee der grenzübers­chreitende­n „Rechtsstaa­tlichkeit“ersetzt wird, die wie ein One-size-fits-allsweatsh­irt allen Teilnehmer­n übergestül­pt werden kann. ie fragil die Fiktion einer „internatio­nalen Solidaritä­t“ist, haben wir vor Kurzem erfahren. Ein ungarische­r Abgeordnet­er im Europaparl­ament wurde buchstäbli­ch mit herunterge­lassenen Hosen bei einer Herren-sex-party erwischt. Da er in Budapest gegen Homosexual­ität agitiert, war die Häme in Brüssel grenzenlos. Heuchler!, tönte es ihm entgegen. Als ob Heuchelei nicht das Geschäftsm­odell der EU wäre.

Wist Kolumnist der „Welt“, „Weltwoche“und Kleinen Zeitung

Newspapers in German

Newspapers from Austria