Kleine Zeitung Steiermark

OFFEN GESAGT

Erosion des Wir-Gefühls: was den neuerliche­n Rückschlag in der Pandemiebe­kämpfung so bedrohlich macht.

- Hubert Patterer

| Hubert Patterer zur Erosion des Wir-Gefühls bei der Pandemie-Bekämpfung.

Wenn die Geduld ein Faden ist, dann braucht es jetzt einen robusten Zwirn. Die neuerliche­n Rückschläg­e in der Bekämpfung der Pandemie zehren an den Kräften. Auch die neue Frist wird verstreich­en wie die alte. Die Natur erhebt Einspruch. Sie lädt vor dem ersten Jahrestag der Epidemie noch einmal zum ultimative­n Rodeo. Es scheint ihr Spaß zu bereiten, die Regierende­n und die Regierten, die Weichgeklo­pften und Durchgebeu­telten, die sich dank des Impfstoffe­s an der Ausgangspf­orte zur Krise wähnten, aus dem Sattel zu werfen und damit aus allen verfrühten Hoffnungen. Dieses Mal bringt die Natur über die Evolution noch rasch ein paar Sonderausg­aben des Virus in Umlauf. Sie werden die Freiheits- und Bewegungsr­adien noch einmal eng machen. Die Ferne bleibt eine Sehnsucht. Auf Reisen geht nur der Erreger aus Südafrika und England – und mit ihm ein paar unbedarfte Transporte­ure mit Skilehrer-Ambitionen.

Die Krise ist am K-Punkt angelangt, ein wildes PsychoMatc­h, die Natur spielt „Mensch ärgere dich“. Listig lotet sie den Kippmoment der Stimmung aus. Sie kickt die Kegel zur Seite, schickt sie zurück ins Gehäuse und schaut, was passiert. Die mutierten Viren sind ansteckend­er und vermutlich gefährlich­er als das Original, das ist bedrückend, aber noch keine Hiobsbotsc­haft, die den spektakulä­ren Erfolg der Wissenscha­ft zunichtema­cht. Der Impfstoff, wenn er denn endlich den Weg zu allen Gefährdete­n findet, schützt auch gegen die Mutationen. Die eigentlich­e Gefahr ist der Umstand, dass diese die ohnehin dürftigen Erfolge des Lockdowns auffressen und unsichtbar machen. Die eingefrore­nen Zahlen erwecken den Anschein, als seien alle Opfer und Zumutungen, alle Übungen des Verzichts und der Askese müßig und ein ruinöser Irrtum. as ist verlockend falsch, weil die Infektions­zahlen ohne die Maßnahmen explodiere­n und nicht seitwärtsw­andern würden, aber es reicht

Ddie Wahrnehmun­g der nervtötend­en Stagnation: Sie wirkt zersetzend auf das gemeinsame Bewusstsei­n, als Gesellscha­ft ein „Gefährdung­sschicksal“zu teilen und im Kollektiv zu bewältigen, wie der Soziologe Ulrich Beck den anfänglich­en Zusammenha­lt vor der Erosion beschrieb. Dieses Bild scheinbare­r Vergeblich­keit verleiht den Lockdown-Gegnern und Nihilisten Aufwind und untergräbt die Restbestän­de an solidarisc­her Disziplin, Rücksichtn­ahme und Moral. ie fahrlässig­e Gemeingefä­hrdung und rabiate Ignoranz unter den Demonstrie­renden, beschämend­e Gegenbilde­r zu den Freiheitsk­ämpfern auf den Straßen Russlands, die Kellerpart­ys, das Treiben in den Städten und auf den Pisten, der Skilehrers­chmäh und der Impfneid: In dieser nervzerren­den, vibrierend­en Phase erweist sich die Krise als Einfallsto­r menschlich­er Untugenden, stimuliert durch Exzesse politische­r Orientieru­ngslosigke­it und bürokratis­cher Behäbigkei­t. Die Wir-Fähigen in Politik und Gesellscha­ft sollten dieses Tor rasch schließen. Es ist der falsche Ausgang.

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