Vom Mut, alles infrage zu stellen
Erstmals komplett auf Deutsch: Voltaires Attacke auf vermeintliche Gewissheiten.
Am Montmartre in Paris, im Schatten der Kirche Sacré-Coeur, steht ein kleines Denkmal für den Chevalier de la Barre. Der 20-jährige Adlige wurde am 1. Juli 1766 gefoltert und enthauptet, sein Körper verbrannt. Er war der letzte Franzose, der wegen Gotteslästerung hingerichtet wurde. Sein Verbrechen: Er hatte vor einer Fronleichnamsprozession nicht den Hut gezogen. Dazu gab es Vorwürfe, er hätte ein Holzkreuz „geschändet“. In seinem Schlafzimmer fand man neben „galanten“bzw. pornografischen Büchern eine Ausgabe des „Philosophischen Taschenwörterbuchs“von Voltaire.
Man muss sich diesen historischen Hintergrund vor Augen führen, um der Bedeutung dieses erstmals in deutscher Übersetzung vorliegenden Werks gerecht zu werden. Voltaire ist ein radikaler Aufklärer. Der philologische Furor, mit dem er unlogische Stellen in der Bibel der Lächerlichkeit preisgibt, mag 256 Jahre später kindisch erscheinen, weil an der eigentlichen Sache der Bibel vorbeigehend. Das schmälert Voltaires Leistung nicht. Damals war es ein Akt der Tapferkeit, des Widerstands im Namen der Humanität gegen ein repressives Glaubens- und Denksystem, das Leute im Extremfall hinrichten ließ. Voltaire hat den Mut, alles infrage zu stellen: Nicht nur die Religion, sondern auch Begriffe wie Moral und Schönheit oder die Vaterlandsliebe kommen auf den Prüfstand seines kritischen Talents. Da blitzt immer wieder ein aufregender, bisweilen fast postmoderner Denker durch, der falsche Gewissheiten polemisch auseinandernimmt.
Dabei sind diese Attacken auf Normen und die Sitten des Denkens nicht nur geistreich, sondern auch witzig: „Das Vorurteil ist eine Meinung ohne Urteil. So flößt man den Kindern auf der ganzen Welt alle Meinungen ein, die man will, bevor sie in der Lage sind zu urteilen“, notiert er zum Stichwort „Vorurteile“, einem von 73 Einträgen eines Wörterbuchs, das die Kraft des kritischen Verstandes gegen jeglichen Fanatismus in Stellung bringt. Das Exemplar in Besitz des Chevalier de la Barre wurde mit dem Delinquenten übrigens mitverbrannt.