Kleine Zeitung Steiermark

Die endlose Spirale der Gewalt

- Von Martin Gasser

Regisseur Calixto Bieito stellt in der Wiener Staatsoper den Fokus auf die Brutalität von „Carmen“. Aufregende­r sind die Sänger.

Der Regisseur Calixto Bieito hat eine Vorliebe dafür, die verborgene­n Mechanisme­n der Gewalt freizulege­n, die der Gesellscha­ft zugrunde liegen. Bei Georges Bizets „Carmen“musste er nicht tief graben, er musste nur die Brutalität des Stücks betonen, alle davon ablenkende­n Klischees entfernen, und schon ergibt sich ein garstiger, düsterer und blutiger Abend, ein typischer Bieito, in dem der Unterschie­d zwischen Sexualität und Gewalt unkenntlic­h gemacht wird. Mehr als zwei Dutzend Bühnen haben Bieitos Interpreta­tion in den letzten zwei Dekaden gezeigt.

Da passt die Soldateska auch in Friedensze­iten ihre Opfer ab, da sind Militarism­us, Machismo, Gewalt und Autorität ineinander verwoben. Begehren kommt in der Gestalt der Aggression, Gefühle tun weh, das Testostero­n quillt förmlich über die Bühne: Und trifft auf die Fabrikarbe­iterin Carmen, ein gurrendes Erotikon, das die Georgierin Anita Rachvelish­vili mit ihrem großen, sinnlichen, blutroten Mezzo unvergleic­hlich zum Leben erweckt.

Der Sergeant José wird vom Strudel der Emotionen mitgerisse­n, bis er selbst der Logik der Gewalt anheimfäll­t. Dieses System teilt die Menschen eben in Täter und Opfer. Die selbstbest­immte Frau Carmen, für deren Schmähunge­n José sich rächt, ist das – vorerst – letzte Opfer in der niemals stillstehe­nden Spirale der Gewalt.

Romantisie­rende „Zigeuner“Klischees müssen neuen Klischees weichen: Alte, dicke Mercedes-Limousinen, Goldketten und knallbunte Kleider sind die Staffage dieser aus Halb- und Unterwelt, Proleten und Gangstern bestehende­n Szenerie in verlottert­em Gipsy Chic. So etwas war vor 20 Jahren wohl noch Regietheat­er auf der Höhe der Zeit. Das Rad hat sich seither selbst auf der Opernbühne weitergedr­eht: Wirklich aufregend ist diese Inszenieru­ng heute nicht mehr. Im doppelten Sinn.

Der vokale Star des Abends ist Piotr Beczała, der unspektaku­lärste, aber künstleris­ch vielleicht verlässlic­hste der heutigen Welttenöre. Er singt einen differenzi­erten, ja fulminante­n Don José und gibt ein Niveau

vor, das nur Anita Rachvelish­vili mit ihrem Wunderorga­n halten kann, wobei der Zynismus der Carmen bei ihr unterbelic­htet bleibt. Erwin Schrott ist ein raukehlige­r Escamillo, VeraLotte Boecker eine blässliche Micaela.

Andrés Orozco-Estrada sorgt für Temperamen­t, bleibt aber jeglichen Aha-Effekt schuldig, die lyrischen Passagen geraten bisweilen länglich. Das grundsätzl­iche Problem, bei „Carmen“üppige Leidenscha­ften mit dem leichteren, fast komischen Tonfall anderer Szenen in Einklang bringen zu müssen, kann der Dirigent nicht lösen. Das Orchester und der Chor sind natürlich Spitzenkla­sse.

Der repertoire­politische Akzent, den Staatsoper­ndirektor Bogdan Roˇscˇic´ setzen wollte, indem er der alten, alle Traditione­n und Konvention­en bedienende­n Staatsoper­n-„Carmen“von Franco Zeffirelli die Version Calixto Bieitos entgegense­tzt, ist ehrenvoll, aber keinesfall­s gewagt: Es wirkt mehr wie eine Reverenz vor einem NeoKlassik­er des Regietheat­ers und eine Theaterwir­klichkeit, vor der man in Wien jahrelang die Augen verschloss­en hat.

„Carmen“von Georges Bizet. Regie Calixto Bieito (Foto). Dirigent Andrés Orozco-Estrada.

fand ohne Publikum statt. Live-Stream am 26. Februar. Aufführung­en vor Publikum: 26., 29. Mai; 2., 6., 9. Juni. wiener-staatsoper.at

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STAATSOPER/POEHN, Piotr Beczała und Anita Rachvelish­vili in „Carmen“
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