Die Mafia an unserem Mittagstisch
Die Mafia versucht, vom Anbau bis zum Teller die Erzeugungskette italienischer Speisen in den Griff zu bekommen. Mit erschreckendem Erfolg – auch bei uns.
Das Geschäft mit dem Essen, mit Gemüse und Früchten, Olivenöl und Mozzarella, Pizza und Pasta ist in den vergangenen Jahrzehnten zu einem bedeutenden Sektor im Portfolio der Mafia geworden. Es ist ihr zweitgrößtes Geschäft, mehr als 24 Milliarden Euro nimmt sie damit im Jahr ein. Nur Drogen bringen noch mehr, aber die sind illegal, schon bevor sie in die Hände der Mafia geraten. Essen ist Bedürfnis, Alltag, Freude.
Noch nie kam uns die Mafia so nah: Sie hat sich zu uns an den Tisch gesetzt, sich auf den Teller geschlichen. Das Business der Agromafia, wie man die Mafia der Lebensmittelproduktion nennt, wächst parallel zum Erfolg der italienischen Küche. Und der ist phänomenal, weltumspannend, eine der ganz großen Geschichten.
Mit dem „cibo“werden in Italien jährlich 140 Milliarden Euro umgesetzt. Bei dieser Angabe wird nur der Handel mit den Produkten gerechnet. Zählt man alles dazu, was darüber hinaus noch zur Branche gehört, nämlich die italienischen Restaurants, der Verkauf von italieDie nischen Maschinen für die Herstellung von Dosentomaten und Teigwaren, der Transport und die Verteilung von Gemüse und Früchten, kommt man auf einen Betrag von 540 Milliarden Euro pro Jahr. Das entspricht dem Bruttoinlandsprodukt von Norwegen und Dänemark, zusammengenommen. Fast jeder fünfte italienische Arbeitnehmer ist in dieser Industrie tätig, 3,8 Millionen sind es insgesamt.
Der Mafia ist die Branche rund ums Essen nicht nur lieb, sie ist ihr auch sehr vertraut. Sie kommt vom Land, dort ist sie geboren: auf den Feldern, auf den Weiden, in den Ställen. Auf Sizilien ist es die Cosa Nostra, in Kalabrien die ’Ndrangheta, und in Kampanien sind es die Camorra und die Clans der Casalesi. Gemeinsam ist den Mafiosi dieser drei großen italienischen Kartelle, dass sie einst Bauern und Mittelsmänner von Großgrundbesitzern im Hinterland von Palermo, Reggio Calabria und Neapel waren. Sie trieben die Feldarbeiter an, die sie zu Hungerlöhnen beschäftigten. Dann trugen sie das Gemüse und die Früchte auf die Märkte und in die Häfen der Städte und holten dort für die Herrschaften, die sie schickten, möglichst viel für die Ware heraus. Notfalls mit Gewalt. Während die Preise anderswo in Europa an Börsen bestimmt wurden, war es im Süden Italiens die Mafia, die bestimmte. m Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde die Mafia immer stärker. Sie jagte die Feudalherren zum Teufel und übernahm die Ländereien. Der Weg vom Feld zum Markt
Iund zum Kunden war nun in ihrer Hand. „La terra“, das Land als Boden und Herkunft, ist der Mafia heilig. Sie beschwört es mit religiöser Ernsthaftigkeit, das dient dem Mythos. Auch „cosca“, das italienische Wort für Clan, kommt aus der Landwirtschaft: Artischockenherz. Jedes Blatt der Artischocke, jedes Mitglied ist mit der Mitte verbunden, festgemacht am Herzen der Macht. Die Mafia wird nachhaltig unterschätzt, überall in Europa. Regierungen und Ermittler lassen sich leicht in die Irre führen. neue Mafia schießt weniger als die alte, sie tötet kaum noch. Und das ist ein Grund für große Besorgnis. Denn das heißt, dass es ihr gut geht, dass ihre Geschäfte laufen, dass sie sich wohlig eingerichtet hat in der Gesellschaft, dass auch die Gleichgewichte unter den Clans funktionieren. Die Mafia tötet nur, wenn sie sich bedrängt fühlt. ie neue Mafia wird von den gut ausgebildeten Nachkommen der alten, inhaftierten Bosse geführt, die ihre Hochzeit in
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Achtziger- und Neunzigerjahren hatten, manche auch noch zu Beginn des neuen Jahrtausends. Die Clans haben ihre Sprösslinge an die besten Universitäten geschickt, damit sie dort Wirtschafts- und Rechtswissenschaften studieren. Und Informatik. Weltgewandte junge Menschen sind das, mehrsprachig, mit internationalen Netzwerken und guten Umgangsformen. Sie müssen fähig sein, Computersysteme zu hacken, Geld zu verschieben, neue Märkte zu entdecken. Sie sollen Onlinewetten manipulieren,
geboren 1968 in Zürich, studierte Politikwissenschaften in Genf und arbeitete als Journalist in Italien, Südostasien, Frankreich und Spanien. Derzeit ist er Italienkorrespondent der „Süddeutschen Zeitung“und des „Tages-Anzeigers“in Rom. Der vorliegende Text ist ein Auszug aus seinem dieser Tage erschienenen Buch „Agromafia“. komplizierte Firmenkonstrukte mit Schachtelunternehmen bilden, mit Hochfrequenzhandel an der Börse und mit Immobilien die Einkünfte mehren. Die meisten Geschäfte der Mafia laufen noch immer mit Cash, vor allem der Drogenhandel. Bargeld hinterlässt keine Spuren. Doch mehr und mehr handelt sie auch mit Kryptowährungen. or allem aber investiert die neue Mafia massiv in die legale Geschäftswelt. Während der Wirtschaftskrise gelang es ihr, Milliden
Varden aus dem Drogenhandel zu waschen. Das ging ganz einfach: Viele Unternehmen rangen ums Überleben, die Banken gaben kaum mehr Kredite. Die Mafia aber war liquid und kaufte alles, was es zu kaufen gab. Auch Tausende Restaurants – und hektarweise Agrarland.
Der Ausbruch von Corona mit allen verheerenden Folgen für die Wirtschaft, den Tourismus und die Gaststätten weckte neue Sorgen. In Italien hieß es schon bald, die Mafia werde im Gewand von „Schakalen und Geiern“über die Opfer der Krise herfallen, sie mit Wucherzinsen und Erpressung in die Abhängigkeit treiben und sie dann verzehren, wie sie das in der Not immer tue. Die Regierung in Rom forderte die Banken deshalb auf, ausnahmsweise schnell und unkompliziert Kredite zu gewähren, um Restaurants und Hotels vor dem Zugriff der Clans zu retten. Ein Wettrennen mit der Zeit, mit unsicherem Ausgang und trüber Vorahnung: In der Regel ist das Geld der Mafia schneller. ls 2012 der erste Jahresbericht über die Agromafia herauskam, näherte sich die Wirtschaftskrise in Italien gerade ihrem Höhepunkt. Für die Italiener war der Bericht ein Schock. Solange die Mafia für Drogenund Waffenhandel stand, für Prostitution und Erpressung, schien sie weit weg zu sein von der geordneten Welt der Normalbürger. Nun war sie einem plötzlich nah, versteckt auf dem Teller. Sie ließ sich nicht mehr ignorieren. Vom Feld bis ins Regal der Supermärkte und auf
Adie Tische: Die Mafia hat die gesamte Kette unterwandert.
Sie kam vom Land, und aufs Land ist sie zurückgekehrt, wenn sie es denn jemals verlassen hat. Sie kaufte Ländereien im großen Stil, um selbst Gemüse und Früchte zu produzieren oder, öfter noch, um Subventionen aus den Strukturfonds der Europäischen Union abzuschöpfen. Besitzer, die nicht verkaufen mochten, wurden in die Knie gezwungen. Mit Viehraub, Brandanschlägen, der Zerstörung ganzer Ernten. eit 2012 ist jedes Jahr ein neuer Bericht zur Agromafia erschienen. Ihre Verfasser führten immer neue Beispiele an, Skandale, Betrugsfälle. 2012 waren es 12,5 Milliarden Euro, 2019 schon 24,5 Milliarden Euro. Im Durchschnitt wachsen die Einkünfte aus diesem Geschäft um zehn Prozent pro Jahr. Einige Produkte versprechen Gewinnmargen von 500, gar 1000 Prozent. Kein Business der Mafia ist verlässlicher und stabiler als das Geschäft mit der Ernährung. Der Rapport nennt die Mafia der Landwirtschaft und des Essens Agromafie, im Plural also. Die Mehrzahl fasst alles, auch die Grauzone der kleinen und großen Banden von Betrügern, Täuschern und Panschern, die, genau genommen, nicht zu den bekannten Vereinigungen der Organisierten Kriminalität gehören. Durchgesetzt hat sich der Begriff dennoch in der Einzahl: Agromafia. Eine neue Mafia, die sich aus der alten nährt und sich auf ihren Ursprung besinnt.
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