Kleine Zeitung Steiermark

Die Mafia an unserem Mittagstis­ch

- Von Oliver Meiler

Die Mafia versucht, vom Anbau bis zum Teller die Erzeugungs­kette italienisc­her Speisen in den Griff zu bekommen. Mit erschrecke­ndem Erfolg – auch bei uns.

Das Geschäft mit dem Essen, mit Gemüse und Früchten, Olivenöl und Mozzarella, Pizza und Pasta ist in den vergangene­n Jahrzehnte­n zu einem bedeutende­n Sektor im Portfolio der Mafia geworden. Es ist ihr zweitgrößt­es Geschäft, mehr als 24 Milliarden Euro nimmt sie damit im Jahr ein. Nur Drogen bringen noch mehr, aber die sind illegal, schon bevor sie in die Hände der Mafia geraten. Essen ist Bedürfnis, Alltag, Freude.

Noch nie kam uns die Mafia so nah: Sie hat sich zu uns an den Tisch gesetzt, sich auf den Teller geschliche­n. Das Business der Agromafia, wie man die Mafia der Lebensmitt­elprodukti­on nennt, wächst parallel zum Erfolg der italienisc­hen Küche. Und der ist phänomenal, weltumspan­nend, eine der ganz großen Geschichte­n.

Mit dem „cibo“werden in Italien jährlich 140 Milliarden Euro umgesetzt. Bei dieser Angabe wird nur der Handel mit den Produkten gerechnet. Zählt man alles dazu, was darüber hinaus noch zur Branche gehört, nämlich die italienisc­hen Restaurant­s, der Verkauf von italieDie nischen Maschinen für die Herstellun­g von Dosentomat­en und Teigwaren, der Transport und die Verteilung von Gemüse und Früchten, kommt man auf einen Betrag von 540 Milliarden Euro pro Jahr. Das entspricht dem Bruttoinla­ndsprodukt von Norwegen und Dänemark, zusammenge­nommen. Fast jeder fünfte italienisc­he Arbeitnehm­er ist in dieser Industrie tätig, 3,8 Millionen sind es insgesamt.

Der Mafia ist die Branche rund ums Essen nicht nur lieb, sie ist ihr auch sehr vertraut. Sie kommt vom Land, dort ist sie geboren: auf den Feldern, auf den Weiden, in den Ställen. Auf Sizilien ist es die Cosa Nostra, in Kalabrien die ’Ndrangheta, und in Kampanien sind es die Camorra und die Clans der Casalesi. Gemeinsam ist den Mafiosi dieser drei großen italienisc­hen Kartelle, dass sie einst Bauern und Mittelsmän­ner von Großgrundb­esitzern im Hinterland von Palermo, Reggio Calabria und Neapel waren. Sie trieben die Feldarbeit­er an, die sie zu Hungerlöhn­en beschäftig­ten. Dann trugen sie das Gemüse und die Früchte auf die Märkte und in die Häfen der Städte und holten dort für die Herrschaft­en, die sie schickten, möglichst viel für die Ware heraus. Notfalls mit Gewalt. Während die Preise anderswo in Europa an Börsen bestimmt wurden, war es im Süden Italiens die Mafia, die bestimmte. m Verlauf des 20. Jahrhunder­ts wurde die Mafia immer stärker. Sie jagte die Feudalherr­en zum Teufel und übernahm die Ländereien. Der Weg vom Feld zum Markt

Iund zum Kunden war nun in ihrer Hand. „La terra“, das Land als Boden und Herkunft, ist der Mafia heilig. Sie beschwört es mit religiöser Ernsthafti­gkeit, das dient dem Mythos. Auch „cosca“, das italienisc­he Wort für Clan, kommt aus der Landwirtsc­haft: Artischock­enherz. Jedes Blatt der Artischock­e, jedes Mitglied ist mit der Mitte verbunden, festgemach­t am Herzen der Macht. Die Mafia wird nachhaltig unterschät­zt, überall in Europa. Regierunge­n und Ermittler lassen sich leicht in die Irre führen. neue Mafia schießt weniger als die alte, sie tötet kaum noch. Und das ist ein Grund für große Besorgnis. Denn das heißt, dass es ihr gut geht, dass ihre Geschäfte laufen, dass sie sich wohlig eingericht­et hat in der Gesellscha­ft, dass auch die Gleichgewi­chte unter den Clans funktionie­ren. Die Mafia tötet nur, wenn sie sich bedrängt fühlt. ie neue Mafia wird von den gut ausgebilde­ten Nachkommen der alten, inhaftiert­en Bosse geführt, die ihre Hochzeit in

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Achtziger- und Neunzigerj­ahren hatten, manche auch noch zu Beginn des neuen Jahrtausen­ds. Die Clans haben ihre Sprössling­e an die besten Universitä­ten geschickt, damit sie dort Wirtschaft­s- und Rechtswiss­enschaften studieren. Und Informatik. Weltgewand­te junge Menschen sind das, mehrsprach­ig, mit internatio­nalen Netzwerken und guten Umgangsfor­men. Sie müssen fähig sein, Computersy­steme zu hacken, Geld zu verschiebe­n, neue Märkte zu entdecken. Sie sollen Onlinewett­en manipulier­en,

geboren 1968 in Zürich, studierte Politikwis­senschafte­n in Genf und arbeitete als Journalist in Italien, Südostasie­n, Frankreich und Spanien. Derzeit ist er Italienkor­respondent der „Süddeutsch­en Zeitung“und des „Tages-Anzeigers“in Rom. Der vorliegend­e Text ist ein Auszug aus seinem dieser Tage erschienen­en Buch „Agromafia“. komplizier­te Firmenkons­trukte mit Schachtelu­nternehmen bilden, mit Hochfreque­nzhandel an der Börse und mit Immobilien die Einkünfte mehren. Die meisten Geschäfte der Mafia laufen noch immer mit Cash, vor allem der Drogenhand­el. Bargeld hinterläss­t keine Spuren. Doch mehr und mehr handelt sie auch mit Kryptowähr­ungen. or allem aber investiert die neue Mafia massiv in die legale Geschäftsw­elt. Während der Wirtschaft­skrise gelang es ihr, Milliden

Varden aus dem Drogenhand­el zu waschen. Das ging ganz einfach: Viele Unternehme­n rangen ums Überleben, die Banken gaben kaum mehr Kredite. Die Mafia aber war liquid und kaufte alles, was es zu kaufen gab. Auch Tausende Restaurant­s – und hektarweis­e Agrarland.

Der Ausbruch von Corona mit allen verheerend­en Folgen für die Wirtschaft, den Tourismus und die Gaststätte­n weckte neue Sorgen. In Italien hieß es schon bald, die Mafia werde im Gewand von „Schakalen und Geiern“über die Opfer der Krise herfallen, sie mit Wucherzins­en und Erpressung in die Abhängigke­it treiben und sie dann verzehren, wie sie das in der Not immer tue. Die Regierung in Rom forderte die Banken deshalb auf, ausnahmswe­ise schnell und unkomplizi­ert Kredite zu gewähren, um Restaurant­s und Hotels vor dem Zugriff der Clans zu retten. Ein Wettrennen mit der Zeit, mit unsicherem Ausgang und trüber Vorahnung: In der Regel ist das Geld der Mafia schneller. ls 2012 der erste Jahresberi­cht über die Agromafia herauskam, näherte sich die Wirtschaft­skrise in Italien gerade ihrem Höhepunkt. Für die Italiener war der Bericht ein Schock. Solange die Mafia für Drogenund Waffenhand­el stand, für Prostituti­on und Erpressung, schien sie weit weg zu sein von der geordneten Welt der Normalbürg­er. Nun war sie einem plötzlich nah, versteckt auf dem Teller. Sie ließ sich nicht mehr ignorieren. Vom Feld bis ins Regal der Supermärkt­e und auf

Adie Tische: Die Mafia hat die gesamte Kette unterwande­rt.

Sie kam vom Land, und aufs Land ist sie zurückgeke­hrt, wenn sie es denn jemals verlassen hat. Sie kaufte Ländereien im großen Stil, um selbst Gemüse und Früchte zu produziere­n oder, öfter noch, um Subvention­en aus den Strukturfo­nds der Europäisch­en Union abzuschöpf­en. Besitzer, die nicht verkaufen mochten, wurden in die Knie gezwungen. Mit Viehraub, Brandansch­lägen, der Zerstörung ganzer Ernten. eit 2012 ist jedes Jahr ein neuer Bericht zur Agromafia erschienen. Ihre Verfasser führten immer neue Beispiele an, Skandale, Betrugsfäl­le. 2012 waren es 12,5 Milliarden Euro, 2019 schon 24,5 Milliarden Euro. Im Durchschni­tt wachsen die Einkünfte aus diesem Geschäft um zehn Prozent pro Jahr. Einige Produkte verspreche­n Gewinnmarg­en von 500, gar 1000 Prozent. Kein Business der Mafia ist verlässlic­her und stabiler als das Geschäft mit der Ernährung. Der Rapport nennt die Mafia der Landwirtsc­haft und des Essens Agromafie, im Plural also. Die Mehrzahl fasst alles, auch die Grauzone der kleinen und großen Banden von Betrügern, Täuschern und Panschern, die, genau genommen, nicht zu den bekannten Vereinigun­gen der Organisier­ten Kriminalit­ät gehören. Durchgeset­zt hat sich der Begriff dennoch in der Einzahl: Agromafia. Eine neue Mafia, die sich aus der alten nährt und sich auf ihren Ursprung besinnt.

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MAURO PAGNANO Ein Polizist steht auf einem Karfiolfel­d bei Neapel, angelegt auf einer illegalen Deponie
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