Kleine Zeitung Steiermark

Kein Schutz für Kinder

- Manuela Tschida-Swoboda

Wir können auf dem Mars landen und dort sogar Geräusche aufnehmen. Weit haben wir’s gebracht im dritten Jahrtausen­d. Nur die Kinder, die können wir noch immer nicht schützen. Nicht einmal in Europa.

Denn in Frankreich, dieser Grande Nation, dieser Kulturnati­on, gibt es bis heute kein Schutzalte­r für sogenannte­n „einvernehm­lichen Sex“mit Minderjähr­igen. In Österreich liegt es bei 14 Jahren.

Frankreich­s Parlament debattiert erst seit der Vorwoche wieder einmal darüber, dass ein solches Schutzalte­r gesetzlich festgeschr­ieben werden muss. Freilich gibt es auch in Frankreich viele Schutzpara­grafen, aber Kinderrech­tsverbände beklagen seit Jahrzehnte­n eine Rechtslück­e. Zwar hatte Frankreich 2018 den Straftatbe­stand der Vergewalti­gung erweitert, um Kinder besser schützen zu können – aber auch erst, weil davor der Fall eines erwachsene­n Franzosen hohe Wellen geschlagen hatte, der nach „einvernehm­lichem“Sex mit einer Elfjährige­n freigespro­chen worden war. Was, bitte, kann bei Sex mit einem elfjährige­n Kind „einvernehm­lich“sein? s brauchte auch jetzt wieder einen Dammbruch und das couragiert­e öffentlich­e Auftreten namhafter Opfer, damit das Tabu zum Thema wird. Diese unerträgli­che Relativier­ung von sexuellem Missbrauch muss im Zeitalter von Marsmissio­nen endgültig ein Ende haben.

E

seit 2017 über Frankreich schwappt, will nicht abflauen. Sie wird aber als das genommen, was sie wirklich ist: Die Dramen mit bekannten Protagonis­ten sind lediglich der fassbare Ausdruck eines tiefergehe­nden gesamtgese­llschaftli­chen Problems.

Es geht nicht mehr nur um prominente Einzeltäte­r, die dank ihrer Macht jahrzehnte­lang Narrenfrei­heit genossen haben, sondern um die Strukturen, die die Täter schützten. Das ist unbequem. Weshalb manche versuchen, Pädophilie und Inzest als besonders hässliche Seite von Frankreich­s ansonsten ganz unterhalts­amer Links-Bourgeoisi­e abzutun, ganz so, als beschränke sich der Inzest tatsächlic­h auf SaintGerma­in-des-Prés und sei nur eine weitere Folge der Ausschweif­ungen der 68er.

„Le Point“begab sich auf Spurensuch­e in die Hinterzimm­er der „Kaviar-Linken“. Aber der Verdacht liegt nahe, dass es für Ausschweif­ungen der 70er- und 80er-Jahre kein Parteibuch brauchte. Jedes zehnte Kind in Frankreich, das haben Umfragen ergeben, soll Opfer von Inzest sein. „Inzest ist überall, er hat keine politische Richtung, er kommt rechts wie links vor“, sagt Camille Kouchner, Autorin des Enthüllung­sbuches „La familia grande“.

Der Kulturbetr­ieb wird von immer mehr Opfern, die an die Öffentlich­keit gehen, zur Introspekt­ion gezwungen. Alles, was Intellektu­elle, Politiker, Künstler und Medienvert­reter jahrzehnte­lang in den dunklen Alkoven der Republik trieben, wird ans Licht gezerrt und nicht länger als kulturelle Ausnahme und einen durch Kulturgesc­hichte bedingten Mentalität­sunterschi­ed abgetan. Es fühlt sich an wie eine Zeitenwend­e.

Sie mag mit der Verhaftung des linken Hoffnungsp­olitikers Dominique Strauss-Kahn 2011 in New York begonnen haben, aber erst jetzt sind ihre Auswirkung­en überall zu spüren, selbst an den Elitehochs­chulen. Studentinn­en der Politikwis­senschafte­n aus Toulouse, Bordeaux, Grenoble und Straßburg haben jetzt etliche Fälle sexueller Gewalt öffentlich gemacht.

Kouchners Buch hat sich 300.000 Mal verkauft. Ihr Zwillingsb­ruder hat, auch wenn das Verbrechen verjährt ist, Anzeige erstattet. Aber die Frage muss erlaubt sein, ob ihr Buch dieselbe Wirkung entfaltet hätte, wenn die Protagonis­ten nicht in Paris, an der Côte d’Azur und über Frankreich hinaus bekannt wären? Insofern kommt den Opfern der berühmten Täter eine besondere Verantwort­ung zu: Weil es einen medialen Sturm auslöst, ist es für sie noch schwerer, das Schweigen zu brechen.

von Faulon wirkt wie das traurige Symbol für das Leid aller von strahlende­n Stars missbrauch­ten Kinder. Lévêque, der mutmaßlich­e Täter, wusste vermutlich genau, warum er es vom vorpubertä­ren Faulon verlangt hatte: Er demonstrie­rte damit die Macht, die er über sein Opfer hatte. Gros Bleu taucht später als Silhouette in Lévêques Werken auf. Auch ein Plakat mit dem Kuscheltie­r gibt es. Auf dem Bauch des Bären liegt ein Zettel mit dem handgeschr­iebenen Satz: „Ich habe nichts zu verlieren/ich bin schon tot.“

Faulon haben weder die Drogen zerstört noch hat ihn die Kunst gerettet. Er ist ein Überlebend­er. Ein Jahr nachdem er 2019 Anzeige gegen Lévêque erstattet hatte, verlangte er Gros Bleu zurück. Das Kuscheltie­r kam per Post. Es lag, wortlos, in einem Pappkarton.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria