Kein Schutz für Kinder
Wir können auf dem Mars landen und dort sogar Geräusche aufnehmen. Weit haben wir’s gebracht im dritten Jahrtausend. Nur die Kinder, die können wir noch immer nicht schützen. Nicht einmal in Europa.
Denn in Frankreich, dieser Grande Nation, dieser Kulturnation, gibt es bis heute kein Schutzalter für sogenannten „einvernehmlichen Sex“mit Minderjährigen. In Österreich liegt es bei 14 Jahren.
Frankreichs Parlament debattiert erst seit der Vorwoche wieder einmal darüber, dass ein solches Schutzalter gesetzlich festgeschrieben werden muss. Freilich gibt es auch in Frankreich viele Schutzparagrafen, aber Kinderrechtsverbände beklagen seit Jahrzehnten eine Rechtslücke. Zwar hatte Frankreich 2018 den Straftatbestand der Vergewaltigung erweitert, um Kinder besser schützen zu können – aber auch erst, weil davor der Fall eines erwachsenen Franzosen hohe Wellen geschlagen hatte, der nach „einvernehmlichem“Sex mit einer Elfjährigen freigesprochen worden war. Was, bitte, kann bei Sex mit einem elfjährigen Kind „einvernehmlich“sein? s brauchte auch jetzt wieder einen Dammbruch und das couragierte öffentliche Auftreten namhafter Opfer, damit das Tabu zum Thema wird. Diese unerträgliche Relativierung von sexuellem Missbrauch muss im Zeitalter von Marsmissionen endgültig ein Ende haben.
E
seit 2017 über Frankreich schwappt, will nicht abflauen. Sie wird aber als das genommen, was sie wirklich ist: Die Dramen mit bekannten Protagonisten sind lediglich der fassbare Ausdruck eines tiefergehenden gesamtgesellschaftlichen Problems.
Es geht nicht mehr nur um prominente Einzeltäter, die dank ihrer Macht jahrzehntelang Narrenfreiheit genossen haben, sondern um die Strukturen, die die Täter schützten. Das ist unbequem. Weshalb manche versuchen, Pädophilie und Inzest als besonders hässliche Seite von Frankreichs ansonsten ganz unterhaltsamer Links-Bourgeoisie abzutun, ganz so, als beschränke sich der Inzest tatsächlich auf SaintGermain-des-Prés und sei nur eine weitere Folge der Ausschweifungen der 68er.
„Le Point“begab sich auf Spurensuche in die Hinterzimmer der „Kaviar-Linken“. Aber der Verdacht liegt nahe, dass es für Ausschweifungen der 70er- und 80er-Jahre kein Parteibuch brauchte. Jedes zehnte Kind in Frankreich, das haben Umfragen ergeben, soll Opfer von Inzest sein. „Inzest ist überall, er hat keine politische Richtung, er kommt rechts wie links vor“, sagt Camille Kouchner, Autorin des Enthüllungsbuches „La familia grande“.
Der Kulturbetrieb wird von immer mehr Opfern, die an die Öffentlichkeit gehen, zur Introspektion gezwungen. Alles, was Intellektuelle, Politiker, Künstler und Medienvertreter jahrzehntelang in den dunklen Alkoven der Republik trieben, wird ans Licht gezerrt und nicht länger als kulturelle Ausnahme und einen durch Kulturgeschichte bedingten Mentalitätsunterschied abgetan. Es fühlt sich an wie eine Zeitenwende.
Sie mag mit der Verhaftung des linken Hoffnungspolitikers Dominique Strauss-Kahn 2011 in New York begonnen haben, aber erst jetzt sind ihre Auswirkungen überall zu spüren, selbst an den Elitehochschulen. Studentinnen der Politikwissenschaften aus Toulouse, Bordeaux, Grenoble und Straßburg haben jetzt etliche Fälle sexueller Gewalt öffentlich gemacht.
Kouchners Buch hat sich 300.000 Mal verkauft. Ihr Zwillingsbruder hat, auch wenn das Verbrechen verjährt ist, Anzeige erstattet. Aber die Frage muss erlaubt sein, ob ihr Buch dieselbe Wirkung entfaltet hätte, wenn die Protagonisten nicht in Paris, an der Côte d’Azur und über Frankreich hinaus bekannt wären? Insofern kommt den Opfern der berühmten Täter eine besondere Verantwortung zu: Weil es einen medialen Sturm auslöst, ist es für sie noch schwerer, das Schweigen zu brechen.
von Faulon wirkt wie das traurige Symbol für das Leid aller von strahlenden Stars missbrauchten Kinder. Lévêque, der mutmaßliche Täter, wusste vermutlich genau, warum er es vom vorpubertären Faulon verlangt hatte: Er demonstrierte damit die Macht, die er über sein Opfer hatte. Gros Bleu taucht später als Silhouette in Lévêques Werken auf. Auch ein Plakat mit dem Kuscheltier gibt es. Auf dem Bauch des Bären liegt ein Zettel mit dem handgeschriebenen Satz: „Ich habe nichts zu verlieren/ich bin schon tot.“
Faulon haben weder die Drogen zerstört noch hat ihn die Kunst gerettet. Er ist ein Überlebender. Ein Jahr nachdem er 2019 Anzeige gegen Lévêque erstattet hatte, verlangte er Gros Bleu zurück. Das Kuscheltier kam per Post. Es lag, wortlos, in einem Pappkarton.