Kleine Zeitung Steiermark

Land der Städte

Österreich­s Metropolen sind attraktiv, aber wenige. Das Selbstgefü­hl ist ländlicher als das deutsche.

- Ralf Beste

Vorige Woche musste ich für einen Tag nach Graz. Eine solche Eintagesre­ise ist in Zeiten der Pandemie beinahe eine Sensation. Um es vorwegzusa­gen: Es war wunderbar.

Besonders in Erinnerung wird mir die Visite bei AVL List bleiben, einem Pionier der Automobilf­orschung. Ich fühlte mich mal wie bei Daniel Düsentrieb, mal wie bei James Bonds Tüftler Q zu Gast, als mich der Firmenchef Professor List von Simulator zu Prototyp zu Prüfstand führte. Die Gebäude stehen dicht gedrängt auf dem engen Betriebsge­lände, wo sich gegen Feierabend auffällig viele der jungen Autopionie­re auf zwei Rädern auf den Heimweg machten. Professor List legt Wert auf den Standort mitten in der Stadt: Wozu braucht man überhaupt eine Stadt, fragte er rhetorisch, wenn nicht als Standort für Forschung und Entwicklun­g?

Graz wirkt urban, sympathisc­h, fahrradfre­undlich, und das wissen auch viele Nicht-Österreich­er zu schätzen. In der bildschöne­n Oper habe ich mit der Schweizer Intendanti­n und dem Chefdirige­nten aus Dresden geredet; auch Wirtschaft­svertreter berichtete­n mir, wie attraktiv die steirische Hauptstadt für deutsche Arbeitnehm­er ist.

Großstädte wie Linz und Graz sind aber auch eine Ausnahme, fiel mir im Kontrast zu Deutschlan­d auf: Denn Österreich ist eigentlich kein Land der Städte. Hinter dem riesigen Wien, das fast ein Fünftel der Bevölkerun­g ausmacht, rangieren sie mit weitem Abstand, die nächsten Landeshaup­tstädte Innsbruck und Salzburg sind deutlich kleiner. Dann ist Schluss mit Großstadt.

Der Grad der Urbanisier­ung Österreich­s liegt mit 58 Prozent deutlich unter dem EU-Schnitt, in dem sich Deutschlan­d mit 77 Prozent befindet. Industriel­änder wie die Niederland­e, Dänemark oder Schweden, mit denen man sich hierzuland­e öfters vergleicht, rangieren gar um die 90 Prozent.

Deutschlan­d ist noch dazu weniger auf die eine Metropole ausgericht­et als Österreich. Neben den anderen Millionens­tädten wie München oder Hamburg prägen Ballungsrä­ume wie das Ruhr- und das Rhein-Main-Gebiet das Land. Das österreich­ische Selbstgefü­hl dagegen, so scheint es mir, ist deutlich ländlicher: Städte sind okay, aber die Ausnahme. ls Kind des Ruhrgebiet­s fällt mir das vielleicht besonders auf. Ich war in dem Gefühl aufgewachs­en, dass eine Großstadt ohne Schlote und Autobahnne­tze eigentlich keine ist. Auch insofern war Graz ein schöner Kontrast, für einen Radfahrer noch dazu.

ist seit 2019 deutscher Botschafte­r in Österreich. In einem früheren Leben war er Journalist.

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