Mit den Augen eines Geflüchteten
Flucht war schon eine Geschichte der Bibel. Sie ist eine Menschheitsgeschichte.
Millionen Menschen waren nach Anga80ben
der Vereinten Nationen im vergangenen Jahr auf der Flucht. Das entspricht rund einem Prozent der Weltbevölkerung. Die Zahl der Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, hat sich im vergangenen Jahrzehnt verdoppelt. Dabei gibt es kaum eine Weltregion, die nicht davon betroffen ist – entweder als Hort der Vertreibung oder als Zufluchtsort. Flucht ist aber auch in der Weltgeschichte allgegenwärtig und wird im Zuge des Klimawandels um noch eine Facette reicher. Doch was sind die verbindenden Elemente all jener Menschen, die ihre Heimat verlassen, weil sie dort nicht mehr leben können, leben dürfen? Weggehen, Ankommen, Anfangen, Weiterleben, Erinnern. Der Historiker Andreas Kossert hat daraus ein Meisterwerk gemacht, das nun auch als Sachbuch des Jahres ausgezeichnet wurde und den Preis „Das politische Buch“der Friedrich-Ebert-Stiftung erhalten hat. Kossert wurde bei seiner Recherche durch die eigene Familiengeschichte inspiriert, denn die eigenen Großeltern wurden aus den Masuren vertrieben. Das Besondere an seinem Buch ist allerdings die Perspektive. Nicht die Zahlen zählen, keine Faktenverdichtung hemmt den Lesefluss, es sind die Sichtweisen der Flüchtlinge in unterschiedlichsten Lagen und zu unterschiedlichsten Zeiten – auch mit prominenten Beispielen. Er entzieht damit dem Einzelnen die Verantwortung, die anonyme Masse der Fremden zu repräsentieren. Kossert erzählt die Weltgeschichte anhand von Fluchtgeschichten. Es ist ein packendes Unterfangen und ein eindringliches. Dabei geht es dem Fluchtforscher nicht um einen exakten chronologischen Ablauf, sondern um die Gemeinsamkeiten. Er leitet daraus grundsätzliche Erkenntnisse ab, wie einen höheren Grad der Ablehnung einer Gesellschaft bei größerer Angst vor eigener Entwurzelung. Oder universelle Gefühle der Entbehrung, des Nichtgewolltseins, der existenziellen Bedrohung. Kossert bietet einen Perspektivwechsel an, weil jeder irgendwann zum Flüchtling werden könne – wenn von einem Moment auf den anderen alles anders ist.
Andreas Kossert:
Flucht. Eine Mensch- heitsgeschichte. Sied- ler. 432 Seiten. 25,70 Euro.