RICHARD DAVID PRECHT
isst? Das trifft auf etwa zehn Prozent zu. Und das, obwohl wir über die ganzen Sauereien aus der Massentierhaltung Bescheid wissen. Wie viele kaufen Produkte aus FairTrade-Handel? Keine zehn Prozent. Bei diesem Tempo sind wir am Ende des 21. Jahrhunderts nicht dort, wo wir heute eigentlich schon sein müssten. Der Konsument hat auch nicht die Zeit dafür, sich in jeder Lage darüber Gedanken zu machen, wie ökologisch sinnvoll jeder Kauf ist. Ich würde gerne plastikfrei leben, aber wie? Ich würde mir wünschen, dass die Regierung nicht recyclingfähiges Plastik verbietet.
Sie halten also nichts von der Kritik, dass wir weniger Betroffenheitskundgebungen, weniger „Fridays for Future“bräuchten, sondern mehr Menschen, die selbst handeln und weniger auf einen politischen Godot warten?
Ich muss nicht auf ihn warten, ich kann ihn wählen.
Glauben Sie, dass es ihn gibt?
Ich glaube schon, dass die Basis in den Parteien den entsprechenden Druck machen kann. Ich habe ja für Jugendliche und Pensionisten ein soziales Jahr vorgeschlagen und kann mir vorstellen, dass das kommt.
Für viele werden Sie mit Ihrer Forderung, mehr über Bürgerpflichten nachzudenken, zum Spaßverderber.
Warum? Ich hatte im Zivildienst eine Menge Spaß.
Pflicht und Mäßigung klingen aber eher fremd in den Ohren einer Anspruchsgesellschaft.
Das liegt daran, dass wir in einer Hyperkonsumgesellschaft leben, die uns pausenlos Produkte verkaufen will, damit wir möglichst viel Spaß haben. Frühere Gesellschaften waren anders konditioniert. In jener meiner Großeltern war Maßhalten und die Erfüllung einer Pflicht das Selbstverständlichste auf der Welt. Das gänzlich abzuschaffen, ist wohl kein Gewinn, sondern ein Verlust. Dass der Bürger den Staat als DienstleisHaltung geboren am 8.12. 1964 in Solingen. Er zählt zu den bedeutendsten Philosophen und Autoren im deutschsprachigen Raum. Bestseller: „Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?“,, „Von der Pflicht“ ter und sich als Konsument sieht, dem keine Pflichten auferlegt werden dürfen, ist ja ein völlig infantiles Verhältnis.
Über „Menschinnen“oder die Schuld des „alten weißen Mannes“wird jedenfalls an Unis hitziger debattiert als über Pflichten.
Das stimmt. Ich bin gegen das Gendern, würde es aber jedem selbst überlassen und nicht mit Befehl Gendersternchen einführen. Keine Frau fühlt sich ernsthaft diskriminiert, wenn kein „Innen“steht. Da geht es um eine kleine Schicht gut ausgebildeter Frauen.
Sie sind also ein Antigenderer. Da müssen Sie ja an deutschen Unis mit moralischer Diskreditierung und Ausgrenzung rechnen.
Da ist was daran. Es wird mit dem moralischen Holzhammer argumentiert und damit der Sache keinen Gefallen getan. Ich beschäftige mich mit dem Tierhaltungsthema, aber würde nie sagen, dass Massentierhalter Mörder sind. Ich würde dann ja Leute, die ich zum Umdenken bewegen möchte, nur zu Feinden machen.
Den Linken werfen Sie aber vor, aufgrund der Forderung nach Correctness ein moralisches Erziehungsprogramm zu verfolgen, seit sie den Glauben an den Sozialismus auf Erden verloren haben.
Das ist tatsächlich so. Man möchte die Deutungshoheit über das Innerste im Menschen haben, seine Sprache, sein Geschlecht, seine Sexualität, was er fühlen darf, was nicht. Die Tatsache, ein bestimmtes Gefühl zu haben, ist heute bereits eine Lizenz dafür, mich danebenbenehmen zu dürfen. Auch hier haben wir das Maß verloren. So etwas ist bislang in der Geschichte der Menschheit immer schiefgegangen.
Das Glaubenskriegerische wird sich noch verstärken?
Das hängt mit den Umbruchzeiten zusammen. Wir erleben im Augenblick zwei Revolutionen gleichzeitig: die digitale Revolution und den Umbau der marktwirtschaftlichen Systeme in echt nachhaltige Systeme. Beide sind gigantische Revolutionen. Sie werden unsere Art, zu leben, zu denken, nachhaltig verändern. Es wird eine neue Gesellschaft entstehen. In einer solchen Phase kommen immer Leute mit ihren privaten Interessen und ideologisieren sie. Wir hatten das auch in der ersten, noch stärker in der zweiten industriellen Revolution. Jeder, der irgendetwas im Hinterkopf hat, schart Anhänger um sich.
Wie jene, die im „alten weißen Mann“das Übel der Welt sehen, oder ist das bereits Rassismus mit anderem Vorzeichen?
Da wird jemand aufgrund seines Geschlechts, Alters, seiner Hautfarbe abgestempelt. Der Inbegriff von Rassismus. Und dann sagen mir Leute: Nein, das ist kein Rassismus, weil es trifft jene, die immer auf der Siegerseite standen.