Über Literatur. An die Ungebildeten unter ihren Verächtern.
Die Literatur ist in der Krise. Die Zahl der Leser nimmt ab, aus den Lehrplänen ist die anspruchsvolle Belletristik längst verschwunden, literarische Bildung gilt als letztes verwerfliches Residuum des Bildungsbürgertums und der klassische Kanon erscheint als Dokument rassistischer und kolonialistischer Herrschaftspraxis und soll seine Gültigkeit verlieren. Wenn in der Öffentlichkeit über Literatur diskutiert wird, dann nicht über Texte, Formen und Stile, sondern über die Migrationshintergründe der Autoren und die hinreichenden Diskriminierungserfahrungen von Übersetzern afroamerikanischer Lyrik.
Dazu kommt, dass die Legitimität von Literatur grundsätzlich bezweifelt werden kann. Warum lesen in einer Zeit, in der die digitale Kommunikation und universal gewordene Bildwelten versprechen, die ästhetischen Bedürfnisse viel besser befriedigen zu können als eine antiquierte Kunstform, die seit Jahrtausenden nach demselben Muster arbeitet? Wenn schon Literatur, dann wenigstens eine, die ihren Beitrag zu einer authentischen und identitätspolitisch korrekten Wirklichkeitserfahrung leistet. Autoren werden aus diesem Grund bruchlos mit ihren Hauptfiguren identifiziert, und wehe, da stimmt etwas nicht! Wer auf dem fiktionalen Charakter einer Erzählung beharrt, macht sich verdächtig.
Manchmal verkehren sich Dinge auf die merkwürdigste und Weise. Fiktionalität und Faktizität haben den Platz gewechselt. Galt das Erfinden von Geschichten, die Arbeit mit Figuren, die einer wuchernden Fantasie entsprungen waren, einstens als Merkmal der Literatur, wird diese nunmehr in einer Weise an der Wirklichkeit festgezurrt, die ihre Spielräume empfindlich einschränkt. Umgekehrt erfreuen sich in jenen Medien, die sagen wollen, was ist, Lügen, Halbwahrheiten, Unterstellungen und ideologische Verzerrungen solch einer Beliebtheit, dass die berüchtigten Fake News und die dazugehörigen Verschwörungstheorien lediglich als zugespitzte Form eines verbreiteten laxen Umgangs mit dem Seienden erscheinen. rinzipiell haben beide Formen der Begegnung mit der Wirklichkeit ihre Tücken. Den heiß begehrten Fakten ist das Machen der Wirklichkeit etymologisch eingeschrieben. Die von Hannah Arendt sogenannte Tatsachenwahrheit benötigt zuerst eine Tat und dann eine konsensuelle Beschreibung und Deutung derselben. Wie sehr diese dem entspricht, was geschehen ist, hängt von der Bereitschaft der Beteiligten ab, ihre Aussagen über die Welt immer wieder überprüfen zu lassen. Es liegt jedoch im Wesen der Tatsache, dass sie verdreht werden kann. Die Fiktion hingegen gesteht offen ein, dass etwas vorgetäuscht wird. Ihre ambivalente Faszination liegt im Vermögen des Menschen, manchmal so zu tun als ob. Diese zutiefst humane
PFähigkeit, von Dingen und Ereignissen zu berichten, die gar nicht stattgefunden haben oder sich etwas auszumalen, das nie eintreten wird, soll man nicht gering schätzen. Sich im weiten Raum der Möglichkeit zu bewegen, ist ein Ausdruck von Fantasie und Kreativität, ein Quell unablässiger Freude, ein Trost und eine Variante, der Welt zu entfliehen. Eine Literatur, die sich in einem plumpen Sinn einer ohnehin nur als Missverständnis existierenden Wirklichkeit verpflichtet fühlt, hat sich selbst verraten. un könnte man die zynische These riskieren, dass das Bedürfnis des Menschen nach Imagination, Illusion und Schein relativ konstant ist. Wir lassen uns tatsächlich gerne täuschen. Der Mangel an Fantasie, der die Gegenwartsliteratur kennzeichnet, wird dann eben durch die Lust am Fake kompensiert, die nicht nur die sozialen Medien durchzieht. Da, nach einem erhellenden Gedanken von Friedrich Nietzsche, der Wille zum Schein tiefer geht als der Wille zur Wahrheit, gewinnen der Wirklichkeit verpflichtete Unternehmen wie Wissenschaft und Journalismus durch ihre Fiktionalisierung sogar, die Welt der Literatur aber wird durch ihre Fesselung an nachvollziehbare soziale, historische und biografische Fakten ärmer. Kommen noch moralische und ideologische Vorgaben dazu, droht die große Langeweile. Dass mitunter genau jene das Verschwinden der Literatur beklaArt
Ngen, die durch allerlei Vorschriften, Quotierungen und Sprachregelungen dafür verantwortlich sind, gehört zur unfreiwilligen Ironie eines Kulturbetriebes, der sich darin gefällt, sich selbst zu canceln. atsächlich geht es nicht um einen neuen Realismus, der sich zum Beispiel unter dem Titel „Autofiktion“großer Beliebtheit erfreut. Jeder Ansatz, jede
T
Schreibmethode kann, souverän verwendet, gelingen, jedes Vorhaben kann in den Händen von Stümpern misslingen. Dass Poeten gerne dieses – etwas abgeschmackte – Spiel mit einer frivol angebotenen Identität von Autor und Erzähler betreiben: geschenkt! Dass sich die politischen Diskurse des linksliberalen Justemilieu und seiner Feuilletons ebenso in den Romanen der Gegenwart fin
den wie die vermeintlich großen Fragen unserer Zeit – Migration, fluide Geschlechtlichkeit, Rassismus und Rechtspopulismus mit zugehöriger Gesinnung und Positionierung – schlägt schon stärker zu Buche. Kunst, die das Gute will, ist selten gut. Vollends prekär wird es jedoch, wenn die Realität selbst in das Handwerk des Schreibens eingreift und dieses an allen Ecken und Enden sabotiert – sei es, dass die moralischen Verirrungen eines Schriftstellers als Vorwand dienen, sein Werk zu verdammen, sei es, dass dessen politische Präferenzen seinen Verlag dazu bringen, sich wortreich für den unbotmäßigen Autor, der aus der Reihe tanzt, zu entschuldigen. Die Selbstverständlichkeit, mit der mittlerweile der Moral der Vorrang gegenüber der Ästhetik eingeräumt wird, ist jedenfalls erstaunlich. ls wäre unsere moderne Welt nach uralten archaischen Prinzipien organisiert, gilt offenbar für diese Formen der Verurteilung so etwas wie geistige Sippenhaftung. Dass ein mutloser Verlag Blake Baileys zumindest lesenswerte Biografie des großen amerikanischen Schriftstellers Philip Roth zurückzog, weil Bailey sexuelle Vergehen vorgeworfen werden, zeugt von der neuen Unfähigkeit, Texte in ihrem Eigenwert und ihrer Eigenlogik überhaupt wahrzunehmen. War Roth zu seinen Lebzeiten selbst gefährdet, dem Bann der Hüter der politischen Korrektheit zu verfallen, soll seiner auch im Nachhinein nicht gedacht werden, wenn dem Biografen ein Fehltritt nachgewiesen werden kann. Man weiß nicht, worüber man sich angesichts solcher Affären mehr wundern soll: über die Willfährigkeit, mit der sich Verlage und Literaturkritik den Maximen der neuen Tugendwächter unterwerfen, oder über die Naivität, die es schafft, Autor und Werk in eine
Adeckungsgleiche Beziehung zu setzen. Wenn Schriftsteller vor dem ersten Satz darüber nachdenken müssen, was ihnen nach dem letzten Satz alles vorgeworfen werden könnte, ist es besser, sie lassen das Schreiben bleiben. ie unseligen Feldzüge gegen die sogenannte kulturelle Aneignung tun ihr Übriges. Die Stoffe für Autoren werden rar. Personen und Milieus aus anderen Zeiten und Kulturen gilt es ebenso zu meiden wie den Umgang mit Zeugnissen, denen man sich aufgrund seiner eigenen Herkunft und Befindlichkeit lediglich mit Unverständnis, einem schlechten Gewissen oder in selbstanklagender Demut nähern könnte. Die gewissenlose Souveränität, mit der sich Thomas Mann noch an seiner eigenen Familie, an vertraulich zugespielten Manuskripten Adornos, an einer jüdischen Geschichte, an einem mittelalterlichen Heiligen und an einem blassen Jüngling vergreifen konnte, ist dahin. Überall lauern nun die selbst ernannten Zensoren, die dafür sorgen, dass unter dem Titel der Authentizität nur mehr über das geschrieben werden kann, für das der Autor in seinem realen Leben vermeintlich steht. Schluss mit der Vorstellung, dass ein Poet alles zur Sprache bringen und zu Sprache werden lassen kann, das Eigene und das Fremde, das Vergangene und das Zukünftige, das Angenehme und das Widerwärtige, das Korrekte und das Verwerfliche.
DKonsequent gedacht, führt dies dazu, dass jeder ausschließlich über sich, seine Herkunft, seine Umgebung zu schreiben hat. Und je nachdem, welche Herkunftsund Identitätssuchgeschichten das Feuilleton gerade liebt, werden die entsprechenden Bücher und ihre Verfasser dann an die Oberfläche gespült. Fraglos kann selbst unter diesen Bedingungen aufregende Literatur entstehen. Ärgerlich ist, dass sich alle dem Joch der ideologischen Fronarbeit beugen müssen. ohnt es sich, die Literatur gegen ihre ungebildeten Verächter zu verteidigen? Oh ja! Denn es gibt das Recht des Menschen, mit gut erfundenen Geschichten versorgt zu werden, die nicht nur im und mit dem Leben des Autors spielen. Das Ich, das sich windet und wendet, entblößt und kokett präsentiert, ist in der Regel ziemlich dürftig. Auch ein therapeutisches Schreiben ist kein Ersatz für gelungene Fiktionalisierung. Und auf Thesenromane, die gequält wiederholen, was alle sagen, können wir gerne verzichten. Die Kunst besteht doch nach wie vor darin, die Wirklichkeit durch ihre poetische Erfindung in einem zu überbieten und zu durchschauen. Es genügt, diese Konstruktionen daran zu messen, ob sie in einem fiktionalen Text die richtige Position und Funktion einnehmen, nicht daran, ob die Welt in einem platten Sinn abgebildet erscheint. Habt den Mut, so möchte man den Dichtern unserer Zeit zurufen, euch eurer Fantasie zu bedienen; und die Übersetzer möchte man aufmuntern: Habt keine Angst davor, einmal ein Gedicht zu übertragen, dessen Schöpfer nichts mit euch gemein hat als die Lust am und die Ehrfurcht vor dem Wort. In der Literatur gilt die innere Stimmigkeit als das entscheidende Kriterium; ob in einem faktischen Sinne alles stimmt, ist ohne Belang.
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