Kleine Zeitung Steiermark

Ich bin dankbar für jede Minute . . .

Wenn die Regierung heute den Rahmen für die Sterbehilf­e präsentier­t, droht am Ende die Normalisie­rung des Suizids.

- Carina Kerschbaum­er

Manche Sätze werden nie vergessen. Wie jener einer alten Frau, die über Jahre ihren schwerkran­ken Mann pflegte und zu mir sagte: „Kindchen, Sie haben keine Ahnung, was es heißt, einen Menschen zu pflegen, der immer wieder sagt: Mutti, könnt’ ich nur sterben.“

Oder jener Satz eines Angeklagte­n, der seine Frau zum Sterben in die Schweiz begleitete und deshalb vor dem Richter stand. „Wir haben den 3. 12. als Sterbeterm­in festgesetz­t“, sagte er. Es folgte ein Freispruch. Entschuldi­gender Notstand.

Ab 1. Jänner wird niemand mehr wegen Beihilfe zur Selbsttötu­ng vor Gericht stehen, ab 1. Jänner ist sie erlaubt. Ob die Schutzmaßn­ahmen, die die Regierung heute präsentier­t, für diese neue Etappe des Zusammenle­bens und Sterbens reichen werden? Eine neue Etappe? Ja, künftig ist kein entschuldi­gender Notstand mehr nötig. Ob Normaloder Notzustand, es spielt keine Rolle mehr. Ein Zugewinn an Menschlich­keit? „Ja“würde jene Frau sagen, die das Leiden ihres Mannes erleben musste. „Nein“sagen jene, die in Palliativs­tationen auf Menschen verweisen, die nicht mehr leben wollten. Und die am Ende sagen: „Ich bin dankbar für jede Minute, die ihr mir ermöglicht habt.“

Schwarz-weiß gibt es da nicht. Was bleibt, ist eine Gratwander­ung. Eine, die immer zum Absturz führt. Wie die Legalisier­ung des assistiert­en Suizids auf den ersten Blick ein Gewinn an Menschlich­keit ist, auf den zweiten ein Verlust. Daran wird das Verbot der geschäftsm­äßigen Sterbehilf­e oder ein Sterbeverf­ügungsgese­tz nichts ändern. Denn was steht am Ende? Da steht die Normalisie­rung des Suizids, tödliches Gift – um das Kind beim Namen zu nennen – als soziale Praxis. Selbsttötu­ng als Entlastung pflegender Angehörige­r. Am Ende steht ein Dammbruch in den Köpfen. Mit allen absehbaren Folgen – und neuen Klagen.

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