„Bild“verstellt den Blick auf „Politico“
Für die einen kam es zur absoluten Unzeit. Für die anderen war es das perfekte Timing. Nach einer Story der „New York Times“(NYT) wurde Julian Reichelt bei der „Bild“freigestellt. Dabei schien der Chefredakteur die
Vorwürfe wegen Be- ziehungen zu Mitarbeiterin- nen überstanden zu haben. as ist auch in der schillernden Geschichte von Deutschlands größtem Boulevardblatt keine kleine Affäre. Doch für noch größere Brisanz sorgt ihr wirtschaftliches Rundherum. Denn parallel zu diesem Rauswurf vollzog der „Bild“-Eigentümer den größten Zukauf seiner Firmengeschichte. Der Axel Springer Verlag (ASV) soll für das USNachrichtenunternehmen „Politico“eine Milliarde Dollar gezahlt haben. Er will endlich zum zweiten deutschen Global Player im Mediensektor neben dem ewigen Rivalen Bertelsmann aufsteigen. Europas größter Digitalverlag ist er schon. eshalb beeilte sich ASVChef Mathias Döpfner, zum Fall Reichelt festzustellen: „Es handelt sich hier nicht um ein Kulturproblem des ganzen Springer-Verlages. Es gibt dieses Problem bei ,Bild‘“. Denn der Titel der NYT lautete „Vorwürfe zu Sex, Lügen und einer Geheimzahlung bei Axel Springer, Politicos neuem Besitzer“. Die „New York Times“steht durchaus in Konkurrenz zu dieser 2007 u. a. von Abtrünnigen der „Washington
DDPost“gegründeten NewsPlattform, an deren 2015 entstandener Europa-Ausgabe der ASV seit jeher mit 50 Prozent beteiligt war. In Deutschland hatte der Verleger Dirk Ippen die Veröffentlichung ähnlicher Recherchen zu „Bild“in seinen Zeitungen verhindert. öpfner ist nicht nur Vorstandsvorsitzender und Miteigentümer (21,9 Prozent) von Springer, sondern auch Präsident des deutschen Verlegerverbands und einer der maßgeblichsten Lobbyisten in Brüssel, um die US-Giganten Google, Facebook & Co. in der EU besser einzuhegen. Er war in dieser Funktion ein Hauptredner der österreichischen Medien-Enquete 2018. Nun aber gibt es Rücktrittsforderungen gegen ihn, weil er rund um Reichelt per SMS auch einen abwegigen DDR-Vergleich gezogen hatte. ie Affäre muss auch im Gesamtzusammenhang eines vielschichtigen Medienwettbewerbs gesehen werden. „Politico“ist für den ASV die Chance einer globalen Marke, die „Bild“und „Welt“schon sprachlich kaum werden können. Unterdessen hat sich Springer nach etwas liberaleren Jahren wieder laut und deutlich rechts der Mitte positioniert. Reichelt war ein Symbol für diesen Kurs. Sein Fall birgt trotz allem Ungemach auch eine Chance für den Konzern: die Neuorientierung zum Start einer Koalition ohne Union.
DD