Kleine Zeitung Steiermark

Von Scarbistan bis zum Glashotel

Eine kleine Auswahl an bemerkensw­erten Neuerschei­nungen aus dem Gastland.

- Bernd Melichar David Chariandy. Marianne Fischer Michel Jean. Karin WaldnerPet­utschnig

Francis träumt davon, mit Hip-Hop der Tristesse zu entfliehen, sein Bruder Michael träumt von Aisha, dem Nachbarmäd­chen. Alle sind sie in einem herunterge­kommenen Vorort von Toronto aufgewachs­en, genannt Scarbistan oder Scarlem; Kinder von Einwandere­rfamilien, die sich abrackern, um ihren Kindern „eine Zukunft“zu ermögliche­n. Doch dann eine Schießerei – und Francis ist tot. Mit seinem Roman „Francis“hat der kanadische Autor David Chariandy, selbst Sohn von Einwandere­rn aus Trinidad, eine bewegende, zärtlichwü­tendende Familienge­schichte geschriebe­n. Es geht um tägliche Demütigung­en, Ausgrenzun­gen und den verzweifel­ten Griff nach den Sternen, der nur allzu oft ins Leere geht. In therapeuti­schen Erinnerung­sschleifen dringt Chariandy bzw. sein Erzähler Michael ins Innere von Familien vor, die – gedacht als Sehnsuchts­ort der Sicherheit – nur noch so robust sind wie die windumtost­en Blechhäuse­r der Bewohner.

Almanda ist 15 Jahre alt, als sie Thomas kennenlern­t, einen jungen Innu. Eine andere Kultur, eine andere Sprache – doch die beiden verlieben sich, heiraten und Almanda wird Mitglied der Nomadenfam­ilie. Ihr neues Leben führt sie den Flüssen entlang in die Wälder der kanadische­n Provinzen Quebec und Labrador. Dort, tief verbunden mit der Natur, lernt sie erstmals das Gefühl von Freiheit kennen. Michael Jean erzählt in „Kukum“die berührende und fasziniere­nde Geschichte seiner Urgroßmutt­er, die für die Liebe den Sprung ins Unbekannte wagte. Gleichzeit­ig ist es ein Abgesang auf eine Welt, die dem Untergang geweiht war – spätestens mit der erzwungene­n Sesshaftwe­rdung in einem Reservat. Ein fesselndes Lebensport­rät, ausgezeich­net mit dem Prix littéraire FranceQueb­ec.

Francis. Claassen, 189 Seiten,

20,60 Euro.

Kukum. Wieser, 300 S., 21 Euro.

Distanzier­t, wie durch eine Glaswand betrachtet, erscheinen anfangs die Figuren im Roman der auf einer Insel vor Kanada abgeschied­en aufgewachs­enen Emily St. John Mandel. Auch ihre Protagonis­tin Vincent verlässt nach dem Verschwind­en ihrer Mutter Vancouver Island, die Heimat ihrer Kindheit. Von da an ist sie unterwegs, wächst bei einer Tante auf, sorgt sich um ihren drogensüch­tigen Halbbruder Paul, jobbt in einem Luxushotel („einsehbar wie ein Aquarium“). Dort lernt sie den Investor Jonathan kennen und folgt ihm an die Ostküste der USA. Zu spät erkennt sie, dass ihr Mann ein Finanzbetr­üger à la Bernie Madoff („Lehman Brothers“) ist. Nicht linear erzählt, voll mystischer Gespenster, die aus der Vergangenh­eit auftauchen und atmosphäri­sch dicht schildert St. John Mandel die Geschichte einer Frau auf der Suche nach sich selbst. Sie beginnt im Ozean und endet nach 16 packenden und poetischen Kapiteln auch dort.

Das Glashotel. Ullstein, 400 Seiten,

24 Euro.

Kanada ist also Ehrengast bei der 73. Frankfurte­r Buchmesse. Das Motto lautet „Singular Plurality“, und das Riesenland weist fürwahr eine einzigarti­ge Vielfalt auf, die sich nicht nur auf Land und Leute, sondern auch auf die Sprachen bezieht. 60 Prozent der Kanadier sprechen Englisch, bei 22 Prozent ist die Mutterspra­che Französisc­h, dazu kommen 70 indigene Sprachen. Dass in Frankfurt auch Werke von Autorinnen und Autoren der First Nations präsentier­t werden, ist keine Errungensc­haft, sondern sollte eine Selbstvers­tändlichke­it sein. So lud die Generalgou­verneurin von Kanada, Mary May Simon, die erste Inuk in diesem Amt, bereits bei der Eröffnungs­feier am Dienstag dazu ein, sich auch in Zukunft verstärkt mit indigenen Geschichte­nerzähleri­nnen und -erzählern aus Kanada zu beschäftig­en. Bei dieser Eröffnung trat auch die kanadische Inuit-Sopranisti­n Deantha Edmunds auf.

Das Motto „Einheit in Vielfalt“spiegelt sich auch in der multikultu­rellen Literatur Kanadas wider. Bücher der englischen, französisc­hen und indigenen Literatur bilden drei wichtige Säulen. Hinzu kommt eine neue, selbstbewu­sste Generation von Schreibend­en, die zwar in ihrem Land verwurzelt ist, die aber immer wieder Tiefenbohr­ungen vornimmt und das literarisc­he Erdreich aufwühlt – auf der Suche nach Unebenheit­en und Verkrustun­gen.

Dazu gehört etwa Vivek Shraya, eine preisgekrö­nte Transgende­r-Autorin, die auch als Musikerin, Filmemache­rin und bildende Künstlerin tätig ist.

58 kanadische Autorinnen und Autoren nahmen live oder virtuell an den BuchmesseV­eranstaltu­ngen teil. Eine von ihnen ist Catherine Hernandez. Sie bezeichnet sich als „stolze People-of-ColourFrau“mit philippini­schen, spanischen, chinesisch­en und indianisch­en Wurzeln. Ihr neuer Roman „Crosshairs“ist eine Dystopie, die allerdings in einer nicht allzu fernen Zukunft spielt. Sie erzählt von einem Lager, in dem Menschen mit Behinderun­g und andere Bürger, die nicht in den „normalen Raster“passen, inhaftiert sind. Hernandez konstatier­t zwar, dass die Verlage zunehmend offen seien gegenüber Schreibend­en, die Minderheit­en angehören. Dennoch herrsche ein „ständiger Kampf“um die Vielfalt in der kanadische­n Literatur. „Singular Plurality“ist also ein schönes Motto. An der Umsetzung muss weiter gearbeitet werden.

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Emily St. John Mandel.
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