Was eine Familie im Kern zusammenhält
Fakten, Fake und wunderbare Frauenfiguren: Lucy Kirkwoods „Moskitos“in der pointierten Inszenierung von Itay Tiran begeisterte am Akademietheater.
Lebensnah, scharf beobachtend, brandaktuell und pointiert: Dass die britische Dramatikerin und Drehbuchautorin Lucy Kirkwood („Das Himmelszelt“, „Skins“), Jahrgang 1984, eine der interessantesten Stimmen ihrer Generation ist, beweist auch die österreichische Erstaufführung ihres 2017 uraufgeführten Stücks „Moskitos“am Wiener Akademietheater.
Die Tragikomödie ist gespickt mit Fakten und Fake, kann Spuren von einem Wissenschaftskrimi, einer Coming-of-Age-Story, Kritik an Populismus und einer schonungslosen Familienaufstellung enthalten. Regisseur Itay Tiran füllt die weiße, sterile Bühne (Jessica Rockstroh) mit Loch in der Decke – eine Anspielung auf die zitierten „Schwarzen Löcher“– in einer kurzweiligen, hochdramatischen aber auch plakativen Inszenierung mit prallem Leben.
stehen im Fokus: Die ehrgeizige Alice (Sabine Haupt), die als Physikerin am Cern in Genf kurz vor bahnbrechenden Erkenntnissen steht, und die bildungsferne Jenny (Mavie Hörbiger), die anfällig für Verschwörungstheorien ist und anderen am Telefon Versicherungen aufschwatzt. Als sie schwanger ist, verzichtet sie u. a. auf Ultraschalluntersuchungen. Später lässt sie die Tochter nicht gegen Masern impfen, die daraufhin an den Folgen der Infektion stirbt.
Impfskeptische Menschen, Angst vor Technologie und
Großartig: Barbara Petritsch (vorne), Mavie Hörbiger
Misstrauen in die Wissenschaft – plötzlich ist man mitten in aufeinanderprallenden Denkweisen in der Gegenwart gestrandet. Nur dass diese vom
Theatersessel aus mehr Unterhaltungswert hat. Itay Tiran kostet die Dualität des Stoffs aus, wirft große Fragen nach der Macht des Wissens auf und hinterfragt, was die Welt zusammenhält. Die vielen Kämpfe in dieser Familie fungieren als Metapher auf spannungsgeladene Konflikte und gespaltene Gesellschaften – passenderweise vor dem Hintergrund des Teilchenbeschleunigers Large Hadron Collider in Genf. Der Kollisionsmaschine, die aus zwei gegenläufig operierenden Beschleunigern besteht.
Frauenfiguren mit und Ambivalenz von Kirkwood wurden im Theater lange vermisst. Die frustrierte und zunehmend demente und inkontinente Mutter (großartig keifend: Barbara Petritsch), die als Forscherin kaum Ruhm einheimste, ist das gemeinsame Feindbild der Schwestern. Die Sexting-Attacke, die Alices hochbegabtem, ökologisch korrektem Hacker-Sohn Luke (Felix Kammerer) von seinem Flirt (Caroline Baas) passiert, kehrt die Rollenbilder bitterböse um. Und Markus Meyer führt als Boson in mehlweißem Ganzkörperanzug philosophierend und erklärend durch drei Stunden.
Der Abend gehört aber Mavie Hörbiger, die mit ihrer Wuschellockenperücke erratisch, zaudernd, derb und gleichsam zerstörerisch wie verbindend durch das Stück torkelt. Minutenlanger Beifall im bestens besuchten Akademietheater.