Keine Freiheit ohne Rücksicht
Niemand hat uferlose Freiheitsansprüche. Das war früher allgemein bekannt, heute muss es neu erlernt werden. Sonst rütteln wir am Fundament der Gesellschaft.
Es hat viele Gründe, dass uns die Pandemie so auf die Nerven geht. Einer davon liegt im Umstand, dass sie wie ein Brennglas manches Problem verschärft, das wir auch schon vorher hatten. Zum Beispiel beleuchtet sie recht unbarmherzig die Frage von persönlicher Freiheit, Egoismus und Solidarität.
Dass keiner von uns im luftleeren Raum lebt und jeder tunlichst auf andere Rücksicht zu nehmen hat, war in grauer Vorzeit einmal unbestritten. Die eigene Freiheit ende dort, wo ihr Gebrauch die Freiheit der anderen beschneide, lautete ungefähr die Regel. Das war, bevor sich weite Teile der Gesellschaft in die „sozialen Medien“des Internets zurückzogen, um sich in den dortigen Echokammern der Pflege von Parallelwirklichkeiten zu widmen.
Die Pandemie jedoch zwingt uns wieder dazu, uns als Teil des Gesamten zu begreifen. Dieses Ganze kann man „Schicksalsgemeinschaft“nennen: Wenn sich zu viele verweigern, dann leiden alle. Das jüngst ergangene „Künstler-Urteil“des Verfassungsgerichtshofs verdeutlicht wieder einmal, dass es momentan nicht um Wunschdenken und Idealvorstellungen geht, sondern ums Abwägen des einen Übels gegen das andere.
Denn natürlich ist es ein Übel, dass so viele Kunstschaffende in der Lockdown-Zeit de facto ihren Beruf nicht mehr ausüben konnten. Das schadete ihnen selbst, ihrem Publikum und auch dem geistigen Klima im Land. Kultur ist nichts, worauf wir achselzuckend verzichten können. Aber das andere Übel, nämlich die massive Gesundheitsgefährdung, wog eben in diesem Fall schwerer.
Wenn zwei gute Ziele unvereinbar sind, dann müssen Güter gegeneinander abgewogen werden. Da ist es dann sogar denkbar und legitim, dass die eine oder der andere für sich zur Überzeugung kommt, man hätte genau umgekehrt vorgehen und eben das „kleinere Übel“als größeres taxieren müssen.
Wir sollten an diesem Punkt dringend damit aufhören, Andersdenkende gering zu schätzen. Jedoch: Öffentliche Ordnung bedeutet eben auch, dass eine Instanz (diesfalls das Höchstgericht) den Konflikt verbindlich klärt.
Wir brauchen also, wenn wir in unserem so zerrissenen Land endlich weiterkommen wollen, mehrere Tugenden: Den Willen, andere Meinungen gelten zu lassen. Das Bewusstsein, dass niemand im Besitz der alleinigen Wahrheit ist. Und trotzdem das Bekenntnis zu den Spielregeln, die Stabilität garantieren. Das schließt den Respekt vor Menschen und Institutionen ein. s ist ein kaum zu überschätzender Wert, dass sowohl Regierung als auch Gericht ihre Entscheidungen nachvollziehbar begründen müssen. Doch niemand hat uferlose Freiheitsansprüche. Unser Wohlergehen setzt voraus, dass wir tendenziell gemeinschaftsdienlich miteinander leben. Das zu vermitteln, ist heute die vornehmste Aufgabe von Bildung und Erziehung. Da hat sich eigentlich gegenüber früher gar nicht viel geändert.
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