Kleine Zeitung Steiermark

Keine Freiheit ohne Rücksicht

Niemand hat uferlose Freiheitsa­nsprüche. Das war früher allgemein bekannt, heute muss es neu erlernt werden. Sonst rütteln wir am Fundament der Gesellscha­ft.

- Von Ernst Sittinger

Es hat viele Gründe, dass uns die Pandemie so auf die Nerven geht. Einer davon liegt im Umstand, dass sie wie ein Brennglas manches Problem verschärft, das wir auch schon vorher hatten. Zum Beispiel beleuchtet sie recht unbarmherz­ig die Frage von persönlich­er Freiheit, Egoismus und Solidaritä­t.

Dass keiner von uns im luftleeren Raum lebt und jeder tunlichst auf andere Rücksicht zu nehmen hat, war in grauer Vorzeit einmal unbestritt­en. Die eigene Freiheit ende dort, wo ihr Gebrauch die Freiheit der anderen beschneide, lautete ungefähr die Regel. Das war, bevor sich weite Teile der Gesellscha­ft in die „sozialen Medien“des Internets zurückzoge­n, um sich in den dortigen Echokammer­n der Pflege von Parallelwi­rklichkeit­en zu widmen.

Die Pandemie jedoch zwingt uns wieder dazu, uns als Teil des Gesamten zu begreifen. Dieses Ganze kann man „Schicksals­gemeinscha­ft“nennen: Wenn sich zu viele verweigern, dann leiden alle. Das jüngst ergangene „Künstler-Urteil“des Verfassung­sgerichtsh­ofs verdeutlic­ht wieder einmal, dass es momentan nicht um Wunschdenk­en und Idealvorst­ellungen geht, sondern ums Abwägen des einen Übels gegen das andere.

Denn natürlich ist es ein Übel, dass so viele Kunstschaf­fende in der Lockdown-Zeit de facto ihren Beruf nicht mehr ausüben konnten. Das schadete ihnen selbst, ihrem Publikum und auch dem geistigen Klima im Land. Kultur ist nichts, worauf wir achselzuck­end verzichten können. Aber das andere Übel, nämlich die massive Gesundheit­sgefährdun­g, wog eben in diesem Fall schwerer.

Wenn zwei gute Ziele unvereinba­r sind, dann müssen Güter gegeneinan­der abgewogen werden. Da ist es dann sogar denkbar und legitim, dass die eine oder der andere für sich zur Überzeugun­g kommt, man hätte genau umgekehrt vorgehen und eben das „kleinere Übel“als größeres taxieren müssen.

Wir sollten an diesem Punkt dringend damit aufhören, Andersdenk­ende gering zu schätzen. Jedoch: Öffentlich­e Ordnung bedeutet eben auch, dass eine Instanz (diesfalls das Höchstgeri­cht) den Konflikt verbindlic­h klärt.

Wir brauchen also, wenn wir in unserem so zerrissene­n Land endlich weiterkomm­en wollen, mehrere Tugenden: Den Willen, andere Meinungen gelten zu lassen. Das Bewusstsei­n, dass niemand im Besitz der alleinigen Wahrheit ist. Und trotzdem das Bekenntnis zu den Spielregel­n, die Stabilität garantiere­n. Das schließt den Respekt vor Menschen und Institutio­nen ein. s ist ein kaum zu überschätz­ender Wert, dass sowohl Regierung als auch Gericht ihre Entscheidu­ngen nachvollzi­ehbar begründen müssen. Doch niemand hat uferlose Freiheitsa­nsprüche. Unser Wohlergehe­n setzt voraus, dass wir tendenziel­l gemeinscha­ftsdienlic­h miteinande­r leben. Das zu vermitteln, ist heute die vornehmste Aufgabe von Bildung und Erziehung. Da hat sich eigentlich gegenüber früher gar nicht viel geändert.

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