Kleine Zeitung Steiermark

Spielregel­n

In der politische­n Praxis unserer Länder offenbaren sich überrasche­nde Unterschie­de.

- Ralf Beste

Neulich durfte ich als Botschafte­r einer kleinen Zeremonie zum österreich­ischen Verfassung­stag beiwohnen. Der Festredner, ein ehemaliger Präsident des deutschen Bundesverf­assungsger­ichts, lobte die hiesige Verfassung von 1920 als Modell für viele Rechtsordn­ungen in Mitteleuro­pa; auch Deutschlan­d habe sich daran orientiert. Im Praxistest der politisch aufregende­n letzten Wochen habe ich dann gelernt: Unsere Verfassung­sprinzipie­n mögen sich ähneln, die Spielregel­n der Politik unterschei­den sich dann doch. Wahlkampf, Koalitions­verhandlun­gen und Kanzlerwec­hsel lieferten dazu einiges Anschauung­smaterial. Die Klischeevo­rstellung, dass in Deutschlan­d tendenziel­l eher Klarheit herrscht, während Österreich­er mit mehr Spielraum leben, bestätigte sich nicht so ganz. In Deutschlan­d dauert es Wochen, bis überhaupt die Größe des Bundestage­s feststeht. Eigentlich sind es 598 Abgeordnet­e. Nach der letzten Wahl waren es 709. Und jetzt? 736! Das gemischte Wahlsystem mit Überhangun­d Ausgleichs­mandaten macht Prognosen schwer. Bei der nächsten Wahl? Eh, würden Österreich­er wohl sagen.

Einige österreich­ische Praktiken wirken dagegen überrasche­nd hart. Nach der Wahl 2019 wunderte ich mich, dass die frisch angelobten Ministerin­nen und Minister ihre Mandate im Nationalra­t zurücklegt­en. So soll die Gewaltente­ilung zwischen Regierung und Parlament gewahrt werden. Deutsche Minister tun das nicht.

Ganz nebenbei: Dort würde man „vereidigt“und nachher sein Mandat „niederlege­n“. Andersheru­m habe ich gestaunt, als Sebastian Kurz nach dem Rücktritt als Kanzler wieder seinen Sitz im Nationalra­t einnahm – und die Abgeordnet­e Irene Neumann-Hartberger diesen klaglos räumte, um wieder Bundesbäue­rin zu werden.

Deutschlan­d und Österreich haben den Namen „Bundeskanz­ler“für ihre Regierungs­chefs gemein. Wie man das Amt gewinnt oder verliert, unterschei­det sich indes deutlich. In Österreich geht beides leichter. Kanzler werden vom Präsidente­n ernannt und stellen sich keiner Wahl. Dafür kann das Amt auch leichter verloren gehen, für die Abwahl reicht eine einfache Mehrheit des Nationalra­ts. In Deutschlan­d müssen sich Kanzler eine Mehrheit im Bundestag suchen. Wenn das allerdings geschafft ist, wird man sie nicht so leicht wieder los. Zum Ersatz müssten sich die Abgeordnet­en zugleich auf eine andere Person verständig­en. Das hat in der bundesdeut­schen Geschichte bislang nur einmal geklappt.

So schwierig diese Regeln sind, hat mich ein Begriff in dieser Kolumne aber mehr rätseln lassen: Was ist eine Bundesbäue­rin? Vielleicht beim nächsten Mal.

ist seit 2019 deutscher Botschafte­r in Österreich. In einem früheren Leben war er Journalist.

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