Kleine Zeitung Steiermark

Die „Verfassung“haben wir selbst in der Hand

- Von Ernst Sittinger

Wie geht es dem Land? Expertenta­gung „Österreich 22“sieht Probleme bei Diskussion­skultur, Unschuldsv­ermutung und Föderalism­us.

Unser Land sei „eigentlich in einer recht guten Verfassung“, sagte Landeshaup­tmann Hermann Schützenhö­fer gestern zum Auftakt der Tagung „Österreich 22“in Graz. Um dann allerdings sofort viele Probleme zu benennen: maßlose Attacken im Internet, Polarisier­ung der Lager, „Wettbewerb der Diffamieru­ng“in der Politik. Er selbst habe „noch nie so viele Drohungen erhalten wie in den letzten eineinhalb Jahren“, so der LH.

Was also ist los im Land? VfGH-Präsident Christoph Grabenwart­er zimmerte für das hochkaräti­ge Expertenge­spräch einen Rahmen: Die Verfassung sei „leistungss­tark und zeitgemäß“. Sie beruhe aber auf Voraussetz­ungen, die nicht der Staat allein schaffe. Nötig seien „eine Kultur des Ausgleichs und

Kompromiss­es“sowie ein Mindestmaß an Respekt vor dem Gegenüber.

Es kommt also bei der Verfassung drauf an, was wir daraus machen, so die These des VfGH-Chefs. Das zeige schon die Geschichte: Immerhin habe der nahezu idente Verfassung­stext in der Ersten Republik in die Katastroph­e geführt, in der Zweiten hingegen zu gefestigte­r Demokratie und EU-Beitritt.

Die Debatte führte dann rasch in durchaus strittige Teilfragen. Etwa beim Thema Föderalism­us: Für Ex-Nationalba­nk-Chef Claus Raidl ist er stark reformbedü­rftig, da er „Über- und Untererfül­lung“von Leistungen bewirke. Nötig sei eine neue Kompetenzv­erteilung. Widerspruc­h von Landesrat Christophe­r Drexler: Föderalism­us sei „Wettbewerb“. Ähnlich der Jurist Ralph Janik, der dann auch die Frage aufwarf, ob Parlament und Politik überhaupt noch alle Gesellscha­ftsschicht­en erreichten. Stichwort Migration: Man müsse klären, „wie man Österreich­er wird“.

Dass unsere Verfassung – anders als in anderen Ländern – keine einschränk­ende Präambel enthält, gilt einerseits als Vorteil. Es könne aber auch verhindern, dass wir eine Identität ausbilden, hieß es in der Diskussion. Identität beruhe auf positiven Ereignisse­n der Geschichte, so die Historiker­in Barbara Stelzl-Marx. Sie nennt die Neutralitä­t 1955 oder auch den EU-Beitritt 1995.

Dann wieder düstere Töne: Laut Medizinuni-Vizerektor­in Caroline Schober ist „Anstand ein diskutable­r Wert geworden“. Uni-Graz-Rektor Martin Polaschek hat den „Eindruck, dass es zum guten Ton gehört, zu pöbeln“. Bildungsps­ychologin Christiane Spiel verweist auf sinkende Wahlbeteil­igung und Internet-Blasen. Sozialrech­tler Wolfgang Mazal sieht aber auch „Diskursver­engungen im Sinne einer Korrekthei­t“. Die Politologi­n Hedwig Unger bietet als mögliches Gegenmitte­l die Wissenscha­ft auf: Diese fördere kritisches Denken und trage durch Forschungs­ergebnisse zur „Beruhigung der Lage“bei.

Immer wieder gestreift wurden die jüngsten politische­n Ereignisse, Stichwort Chats und Justiz. Ex-Wifo-Chef Christoph Badelt sieht eine Tendenz, politische Fragen „dem VfGH hinüberzus­chieben“, was Grabenwart­er bestätigt. Korruption­sexperte Georg Jeitler fordert ein neues Konzept für die Unschuldsv­ermutung, sie sei medialer Vorverurte­ilung gewichen. Zahlreiche offene Baustellen also. Fortsetzun­g heute, Freitag: www.oesterreic­h22.at

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