Die „Verfassung“haben wir selbst in der Hand
Wie geht es dem Land? Expertentagung „Österreich 22“sieht Probleme bei Diskussionskultur, Unschuldsvermutung und Föderalismus.
Unser Land sei „eigentlich in einer recht guten Verfassung“, sagte Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer gestern zum Auftakt der Tagung „Österreich 22“in Graz. Um dann allerdings sofort viele Probleme zu benennen: maßlose Attacken im Internet, Polarisierung der Lager, „Wettbewerb der Diffamierung“in der Politik. Er selbst habe „noch nie so viele Drohungen erhalten wie in den letzten eineinhalb Jahren“, so der LH.
Was also ist los im Land? VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter zimmerte für das hochkarätige Expertengespräch einen Rahmen: Die Verfassung sei „leistungsstark und zeitgemäß“. Sie beruhe aber auf Voraussetzungen, die nicht der Staat allein schaffe. Nötig seien „eine Kultur des Ausgleichs und
Kompromisses“sowie ein Mindestmaß an Respekt vor dem Gegenüber.
Es kommt also bei der Verfassung drauf an, was wir daraus machen, so die These des VfGH-Chefs. Das zeige schon die Geschichte: Immerhin habe der nahezu idente Verfassungstext in der Ersten Republik in die Katastrophe geführt, in der Zweiten hingegen zu gefestigter Demokratie und EU-Beitritt.
Die Debatte führte dann rasch in durchaus strittige Teilfragen. Etwa beim Thema Föderalismus: Für Ex-Nationalbank-Chef Claus Raidl ist er stark reformbedürftig, da er „Über- und Untererfüllung“von Leistungen bewirke. Nötig sei eine neue Kompetenzverteilung. Widerspruch von Landesrat Christopher Drexler: Föderalismus sei „Wettbewerb“. Ähnlich der Jurist Ralph Janik, der dann auch die Frage aufwarf, ob Parlament und Politik überhaupt noch alle Gesellschaftsschichten erreichten. Stichwort Migration: Man müsse klären, „wie man Österreicher wird“.
Dass unsere Verfassung – anders als in anderen Ländern – keine einschränkende Präambel enthält, gilt einerseits als Vorteil. Es könne aber auch verhindern, dass wir eine Identität ausbilden, hieß es in der Diskussion. Identität beruhe auf positiven Ereignissen der Geschichte, so die Historikerin Barbara Stelzl-Marx. Sie nennt die Neutralität 1955 oder auch den EU-Beitritt 1995.
Dann wieder düstere Töne: Laut Medizinuni-Vizerektorin Caroline Schober ist „Anstand ein diskutabler Wert geworden“. Uni-Graz-Rektor Martin Polaschek hat den „Eindruck, dass es zum guten Ton gehört, zu pöbeln“. Bildungspsychologin Christiane Spiel verweist auf sinkende Wahlbeteiligung und Internet-Blasen. Sozialrechtler Wolfgang Mazal sieht aber auch „Diskursverengungen im Sinne einer Korrektheit“. Die Politologin Hedwig Unger bietet als mögliches Gegenmittel die Wissenschaft auf: Diese fördere kritisches Denken und trage durch Forschungsergebnisse zur „Beruhigung der Lage“bei.
Immer wieder gestreift wurden die jüngsten politischen Ereignisse, Stichwort Chats und Justiz. Ex-Wifo-Chef Christoph Badelt sieht eine Tendenz, politische Fragen „dem VfGH hinüberzuschieben“, was Grabenwarter bestätigt. Korruptionsexperte Georg Jeitler fordert ein neues Konzept für die Unschuldsvermutung, sie sei medialer Vorverurteilung gewichen. Zahlreiche offene Baustellen also. Fortsetzung heute, Freitag: www.oesterreich22.at