„Für den Täter empfinde ich gar nichts“
Heute vor einem Jahr eröffnet ein Attentäter in der Wiener Innenstadt das Feuer und tötet vier Menschen. Andreas Wiesinger hat trotz Verletzungen überlebt. Die Erinnerungen an jene Nacht sitzen tief, von der Politik ist er enttäuscht.
Eigentlich ist der Schal an allem schuld“, sagt Andreas Wiesinger und deutet auf das Stück Stoff, das seinen Hals umarmt. Die Schneiderei war damit an jenem Nachmittag vor einem Jahr fertig geworden und Wiesinger nutzt die Besorgung in der Wiener Innenstadt für ein spontanes Treffen mit einer Freundin. Die lauen Temperaturen locken die beiden und Hunderte andere in die Schanigärten im Ausgehviertel nahe dem Schwedenplatz. Im Gespräch vertieft hören sie Knaller in der Nähe, „wahrscheinlich Böller“, denkt sich Wiesinger. Bis er in den Lauf eines Sturmgewehres blickt, das ein heranlaufender Mann in den Händen hält. Wenig später fliegen Wiesinger Kugeln um die Ohren. Es ist kurz nach 20 Uhr am Abend des 2. November 2020. Der Tag des Terroranschlages. Und die vermeintlichen „Böller“waren Schüsse, mit denen der Attentäter auf der Stiege um die Ecke sein erstes Opfer getötet hatte.
Zu dieser Zeit geht bei der Polizei der erste Notruf ein, von einer „Schießerei“ist die Rede. Dutzende Menschen laufen schreiend durch die Innenstadt, doch Wiesinger hat keine Zeit zu schreien. „Wir sind alle in das Lokal gelaufen“, erinnert er sich ein Jahr später vor besagter Bar. „Das Erstaunliche war, dass jeder zuerst auf den anderen geschaut und diesen in Sicherheit gebracht hat. Erst dann hat man an sich gedacht. Das war, im Nachhinein betrachtet, schön zu sehen.“
Weniger schön sind die Bilder, die sich ihm daraufhin im Vorratskeller der Bar bieten, in die das Personal die panischen Menschen bringt. „Die Leute sind alle kollabiert, ich habe viel Blut gesehen.“Auch sein Eigenes sieht der Luftfahrtexperte an diesem Abend. Eine Kugel streift ihn am Kopf, eine reißt ihm eine tiefe Fleischwunde ins Knie. Eine weitere durchlöchert seine Tasche, die er wie eine Art Talisman bis heute trägt. Eine von der Hausmauer abprallende Kugel wird durch seine dicke Lederjacke gebremst. Zwei Stunden lang harren er und die anderen Verletzten im Innenhof des Hauses aus, in den der Vorratskeller führt. Eine pensionierte Ärztin leistet Erste Hilfe, die Anrainer helfen mit Decken und Medikamenten aus ihren Hausapotheken. Erst dann werden Rettungswägen in die Stadt gelassen, da man zuvor nach weiteren Tätern gesucht hatte. Was Wiesinger zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Der Angreifer, ein 20-jähriger IS-Sympathisant, der in dieser Nacht vier Menschen tötet und Dutzende weitere verletzt, ist bereits tot. Erschossen durch die Polizei, neun Minuten nach dem ersten Notruf.
Von einem großen Erfolg für die Beamten wird Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) kurz nach dem Attentat sprechen. Der Täter hätte sonst noch deutlich mehr Schaden angerichtet. Erst später stellt sich heraus, dass das Großaufgebot an Beamten wegen einer geplanten Großrazzia bereits in der Nähe war. Was kurz nach der Tat folgt, sind Schuldzuweisungen an die Justiz für die frühzeitige Entlassung des späteren Attentäters, der aber auch nach regulärem Ende seiner Haft zum Tatzeitpunkt auf freiem Fuß gewesen
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21-jähriger Mann getötet
24-jährige Frau getötet
44-jährige Frau getötet
39-jähriger Mann getötet
Polizeibeamter angeschossen
Attentäter vom Polizisten erschossen