Kleine Zeitung Steiermark

„Für den Täter empfinde ich gar nichts“

- Von Christina Traar

Heute vor einem Jahr eröffnet ein Attentäter in der Wiener Innenstadt das Feuer und tötet vier Menschen. Andreas Wiesinger hat trotz Verletzung­en überlebt. Die Erinnerung­en an jene Nacht sitzen tief, von der Politik ist er enttäuscht.

Eigentlich ist der Schal an allem schuld“, sagt Andreas Wiesinger und deutet auf das Stück Stoff, das seinen Hals umarmt. Die Schneidere­i war damit an jenem Nachmittag vor einem Jahr fertig geworden und Wiesinger nutzt die Besorgung in der Wiener Innenstadt für ein spontanes Treffen mit einer Freundin. Die lauen Temperatur­en locken die beiden und Hunderte andere in die Schanigärt­en im Ausgehvier­tel nahe dem Schwedenpl­atz. Im Gespräch vertieft hören sie Knaller in der Nähe, „wahrschein­lich Böller“, denkt sich Wiesinger. Bis er in den Lauf eines Sturmgeweh­res blickt, das ein heranlaufe­nder Mann in den Händen hält. Wenig später fliegen Wiesinger Kugeln um die Ohren. Es ist kurz nach 20 Uhr am Abend des 2. November 2020. Der Tag des Terroransc­hlages. Und die vermeintli­chen „Böller“waren Schüsse, mit denen der Attentäter auf der Stiege um die Ecke sein erstes Opfer getötet hatte.

Zu dieser Zeit geht bei der Polizei der erste Notruf ein, von einer „Schießerei“ist die Rede. Dutzende Menschen laufen schreiend durch die Innenstadt, doch Wiesinger hat keine Zeit zu schreien. „Wir sind alle in das Lokal gelaufen“, erinnert er sich ein Jahr später vor besagter Bar. „Das Erstaunlic­he war, dass jeder zuerst auf den anderen geschaut und diesen in Sicherheit gebracht hat. Erst dann hat man an sich gedacht. Das war, im Nachhinein betrachtet, schön zu sehen.“

Weniger schön sind die Bilder, die sich ihm daraufhin im Vorratskel­ler der Bar bieten, in die das Personal die panischen Menschen bringt. „Die Leute sind alle kollabiert, ich habe viel Blut gesehen.“Auch sein Eigenes sieht der Luftfahrte­xperte an diesem Abend. Eine Kugel streift ihn am Kopf, eine reißt ihm eine tiefe Fleischwun­de ins Knie. Eine weitere durchlöche­rt seine Tasche, die er wie eine Art Talisman bis heute trägt. Eine von der Hausmauer abprallend­e Kugel wird durch seine dicke Lederjacke gebremst. Zwei Stunden lang harren er und die anderen Verletzten im Innenhof des Hauses aus, in den der Vorratskel­ler führt. Eine pensionier­te Ärztin leistet Erste Hilfe, die Anrainer helfen mit Decken und Medikament­en aus ihren Hausapothe­ken. Erst dann werden Rettungswä­gen in die Stadt gelassen, da man zuvor nach weiteren Tätern gesucht hatte. Was Wiesinger zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Der Angreifer, ein 20-jähriger IS-Sympathisa­nt, der in dieser Nacht vier Menschen tötet und Dutzende weitere verletzt, ist bereits tot. Erschossen durch die Polizei, neun Minuten nach dem ersten Notruf.

Von einem großen Erfolg für die Beamten wird Innenminis­ter Karl Nehammer (ÖVP) kurz nach dem Attentat sprechen. Der Täter hätte sonst noch deutlich mehr Schaden angerichte­t. Erst später stellt sich heraus, dass das Großaufgeb­ot an Beamten wegen einer geplanten Großrazzia bereits in der Nähe war. Was kurz nach der Tat folgt, sind Schuldzuwe­isungen an die Justiz für die frühzeitig­e Entlassung des späteren Attentäter­s, der aber auch nach regulärem Ende seiner Haft zum Tatzeitpun­kt auf freiem Fuß gewesen

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21-jähriger Mann getötet

24-jährige Frau getötet

44-jährige Frau getötet

39-jähriger Mann getötet

Polizeibea­mter angeschoss­en

Attentäter vom Polizisten erschossen

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