„Ein Hausbau beginnt beim Fundament“
Eine groß angelegte Studie befasste sich mit den Vorlieben des europäischen Theaterpublikums. Österreich-Koordinator Gerald Gröchenig verrät einige der wichtigsten Erkenntnisse.
Sie waren für Österreich federführend an der internationalen „Asset“-Studie über die Vorlieben von Theaterbesuchern beteiligt. Gab es für Sie nennenswerten Überraschungen?
GERALD GRÖCHENIG: Uns hat zum Beispiel überrascht, dass für über 80 Prozent die Thematik und der Gegenstand der Aufführung der entscheidende Faktor zum Besuch war. Und dass der Preis der Eintrittskarte mit 28 Prozent das geringste Entscheidungskriterium darstellte.
Welche Typen von Theaterbesuchern haben Sie herausgefunden?
Die Londoner „Audience Agency“hat aus 11.000 ausgewerteten Fragebögen neun verschiedene Typen von Theaterbesuchern herausgefiltert. Darunter sind fünf klaren inhaltlichen Präferenzen zuzuordnen, etwa die „Fans des Klassischen“, die klassisches Theater und Etabliertes bevorzugen, oder die „Liebhaber von Stars“, die bekannte Interpreten sehen wollen. Vier Segmenttypen haben keine klaren Präferenzen. Dabei sind die „Mainstreamers“, die sich das anschauen, worüber gerade geredet wird, mit durchschnittlich 25 Prozent das größte Segment. Dazu kommen noch „Überredbare“, „Wählerische“oder meine im Englischen liebste Kategorie, die „Cultural
Grazers“, die bildlich auf der Kulturwiese grasen und sich da und dort ein Büschel „Kultur“einverleiben.
Das Gros der Theaterbesucher ist bekanntlich weiblich. Gibt es da Unterschiede zwischen Österreich und den übrigen Ländern?
Bei den vier befragten Wiener Theatern mit starkem Bezug zur Freien Szene betrug der Anteil der männlichen Besucher 35 Prozent, in den anderen Ländern 25.
Wie viele kommen in Begleitung beziehungsweise gehen lieber solo ins Theater?
In Wien kamen 17 Prozent der Besucher alleine, 50 Prozent mit anderen, davon 26 Prozent mit einem anderen Erwachsenen. Die Untersuchung sagt, dass 45 Prozent aller Besucher als Motivation ihres Besuchs angeben, mit jemandem anderen Zeit verbringen zu wollen. 19 Prozent geben das sogar als Hauptmotivation an – noch vor den zehn Prozent, die als Motivation „Unterhaltung“nennen.
Weiß man, wie alt die durchschnittliche Besucherin ist?
Das unterscheidet sich von Theater zu Theater. Das ist das Problem von Durchschnitten: Wenn Österreich den größten Anteil bei den 20- bis 29-Jähri
gen hat und Finnland bei den 60- bis 69-Jährigen, dann liegt der Durchschnitt bei den 40- bis 49-Jährigen: ein Alter, das die wenigsten in diesen beiden Ländern aufwiesen.
In Ihrer Zeit als Villacher Kulturamtsleiter haben Sie kostenlose Schnupperkarten für Begleitpersonen angeboten. Haben Sie durch solche Aktionen neue Publikumsschichten erschließen können?
Es wäre aus heutiger Sicht eine logische Schlussfolgerung aus der Asset-Studie. Mit der Villacher Aktion „Bring Your Friend“konnte man einmal im Jahr jemanden gratis mitbringen – und damit jene 45 Prozent ansprechen, die gern gemeinsam was erleben wollen.
Ein Manko der „Asset“-Studie besteht wohl darin, dass sie nur Schlüsse über Theatergeher ermöglicht. Hätten Sie eine Idee, wie die Theater auch an Nichtkonsumenten herankommen?
Nichtbesucher konnten wir in dieser Studie nicht abfragen. Aber eines ist sicher: Dem jahrelang beobachtbaren Bedeutungsverlust der ästhetischen und kulturellen Bildung in unseren Schul- und Bildungssystemen können auch die besten Studien und Kulturvermittler nicht ausgleichen. Das Motto des Kindertheaters La Baracca in Bologna lautet: „Einen Hausbau beginnt man beim Fundament, nicht beim Dach“.
Beim Wiener Burgtheater hat man zuletzt einen Besucherschwund von rund einem Drittel beklagt. Wie sehen Sie die Chancen, dass das Publikum nach Ende der Pandemie vollzählig zurückkommen wird?
Unser vorjähriger Slogan zur Europäischen Theaternacht war: „Die Möglichkeit, die Welt im Theater zu spiegeln, ist eine der großen kulturellen Errungenschaften unserer Gesellschaft. Tragen wir dazu bei, dass dies auch in Krisenzeiten so bleibt.“Ich sehe die Chance.
In den heimischen Bühnen gilt mittlerweile die 2G-Regel. Ist das ein Weg, um die Theater auch künftig offen halten zu können?
Diese 2G-Regel ist sicher eine Möglichkeit, die Risiken zu minimieren. Die österreichischen Kulturorganisationen waren während des gesamten Pandemieverlaufs beispielgebend, was Maßnahmen und Präventionskonzepte betrifft. Die meisten Künstler und Veranstalter haben darunter zu leiden, sind sich aber ihrer Verantwortung bewusst. Umso empörender wäre es, wenn diese Szene neuerlich für die augenzwinkernde Arroganz oder einfach Blödheit anderer büßen müsste.