Europas steiniger Weg in die Zukunft
Pandemie und Krieg beschleunigen den Reformprozess der EU. Doch der Weg zu einem „Europa 2.0“ist voller Schlaglöcher.
Ein Tag, drei Meldungen: Der finnische Präsident Sauli Niinistö und Ministerpräsidentin Sanna Marin sprechen sich für einen „unverzüglichen“Nato-Beitritt ihres Landes aus. Ein historisches Ereignis; Schweden wird demnächst folgen, Russland reagiert mit neuem Atomkriegsgetöse.
London droht Brüssel, das Nordirland-Protokoll einseitig zu brechen; gleichzeitig sagt Premier Boris Johnson Schweden und Finnland umfangreiche Sicherheitsgarantien zu.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel sind in Japan und vertiefen die Beziehungen durch eine neue „digitale Partnerschaft“.
Die Europäische Union ist es gewohnt, im permanenten Krisenmodus zu arbeiten, doch nach der Pandemie und angesichts des Krieges scheint es überhaupt nur noch Baustellen zu geben. Doch nun sind es gerade diese beiden Ereignisse, die den begonnenen Reformprozess beschleunigen könnten. Anfang der Woche wurden im EU-Parlament in Straßburg die Ergebnisse der „Konferenz für die Zukunft Europas“vorgestellt, die nach Tausenden Bürgerveranstaltungen 49 konkrete Reformvorschläge und 320 Maßnahmen ergab: alles und nichts zugleich. Auf die EU warten zahlreiche fundamentale Aufgaben – ein Überblick.
1
Sicherheit und Verteidigung. Die Nato, der demnächst 23 von 27 EU-Ländern angehören gewinnt an Bedeutung. Das hat Einfluss auf die EU-Außenpolitik (etwa zur Türkei oder Großbritannien, beide bei der Nato), stört aber auch die Pläne für eine „EU-Armee“. Umsetzbar erscheint die „schnelle Eingreiftruppe“, allerdings zeigen schon die Skandale um die Grenzschutzagentur Frontex, wie schwierig der Aufbau sein kann. Erste Herausforderung ist, die 27 EU-Armeen zu Synergieeffekten zu bringen.
2
Erweiterung. Die Ukraine ist eingeladen, sich als Beitrittskandidat zu bewerben. Den Status wird sie wohl bekommen, vielleicht schon beim Juni-Gipfel. Allerdings können die Verhandlungskapitel erst nach Kriegsende eröffnet werden und dann dauert es Jahre, bis alle abgearbeitet sind. Zuvor müsste man noch eine Lösung für den Westbalkan finden. Die sechs Länder sind schon lange in Warteposition und unterschiedlich weit gekommen. Serbien agiert bewusst provokant und setzt die Kontakte zu Russland und China ein. Der französische Präsident Emmanuel Macron, der einer „neuen EU“seinen Stempel aufdrücken möchte, sprach in Straßburg von einem zusätzlichen, losen Staatenwerden,
bündnis, dem etwa Bosnien, die Ukraine oder das Vereinigte Königreich angehören könnten – eine Art „EU light“. Dafür erntete er heftige Kritik. Der grüne EU-Abgeordnete Rasmus Andresen etwa meinte, damit würden nur die EU-skeptischen Wähler bedient, die Länder in der zweiten Reihe hätten damit auf ewig keine Aussicht mehr, doch noch Aufnahme zu finden.
3
Einstimmigkeit. Einer der großen Zankäpfel ist das Ende der Einstimmigkeit, die noch bei Außenpolitik, Sicherheitsund Steuerpolitik besteht. Othmar Karas (ÖVP), 1. Vizepräsident des EU-Parlaments, nennt die Blockade Ungarns gegen ein Öl-Embargo als Beispiel: „Die EU wird nur handlungsfähiger, wenn es demokratische Mehrheitsentscheidungen gibt.“
4
EU-Verträge. Als eines der Konferenzergebnisse will das EU-Parlament einen Konvent für eine Vertragsreform initiieren – ein starker Eingriff ins „Innenleben“der EU. Auch hier gibt es geteilte Meinungen; noch während in Straßburg der Vorschlag präsentiert wurde, wandten sich 13 der 27 EU-Länder gegen einen Verfassungskonvent. Ihr Argument: Änderungen ließen sich auch innerhalb des bestehenden Rahmens umsetzen.
5
Umwelt und Energie. Ein internes Papier der EU-Kommission geht davon aus, dass die EU in den nächsten fünf Jahren zusätzlich 195 Milliarden Euro investieren muss, um von russischer Energie loszukommen. Gleichzeitig sind auch die Anstrengungen für die Erreichung der Green-Deal-Ziele sehr kostenintensiv. Auch Lieferketten und Unabhängigkeit von Drittländern gehören dazu.
6
Rechtsstaatlichkeit. Verfahren gegen Ungarn und Polen, die Budget-Konditionalität und der Kampf gegen Desinformation sind nur einige der Themen mit Sprengkraft, ebenso die offene Migrationsfrage.