Man will nicht hinsehen und kann nicht wegsehen
Vielleicht ist es das, was Psychologinnen stellvertretendes Lernen nennen. Demnach können wir bei Katastrophen nicht wegsehen, weil wir uns durch Beobachten informieren. Wer den Blick nicht von Grauslichkeiten abwenden kann, will so selbst mit ähnlichen Gefahren umgehen lernen. Oder – zweites Erklärungsmodell – es ist purer Voyeurismus.
Seit Wochen trägt das einstige Hollywood-Traumpaar Amber Heard und Johnny Depp in einem USProzess eine Dreckschlacht aus, die von Millionen beobachtet und kommentiert wird. Wegsehen unmöglich, jede Sekunde wird live im TV übertragen. Depp klagte, weil Heard sich in einer Zeitung als Opfer häuslicher Gewalt bezeichnet hatte. Den Namen des Täters hatte sie nicht genannt, Depp fühlte sich dennoch denunziert, immerhin hatten die beiden kurz zuvor eine, wie es beschönigend heißt, „turbulente“Ehe beendet.
Depp will jetzt 50 Millionen Dollar Schadenersatz für eine ruinierte Karriere, Heard hat draufgelegt: Gegenklage, sie will 100 Millionen. Auch sonst schenken sich die Ex-Ehepartner nichts. In Verhören, Zeugenaussagen, Bild-, Text- und Tondokumenten kommen Dinge ans Licht, die sie einander antaten und die so schockierend sind, dass man – siehe oben – den Blick nicht abwenden kann. Dass Heard auf dem unübersichtlichen Gelände dieser emotionalen Giftmülldeponie bergauf kämpft, war von Anfang an klar. Depp, 22 Jahre älter, ist ein weltweit angebeteter Filmstar. Er hat schräge Typen, gepeinigte Helden, Herzensbrecher gespielt und ist dafür dreimal für einen Oscar nominiert worden. Sie kennt man aus Nebenrollen und jetzt als rachsüchtige Hexe, die den Ex-Mann zerstören will. So sieht es Depps riesige Fangemeinde, die in Hundertschaften vor dem Gerichtssaal und zu Tausenden auf Social Media gegen Heard Meinung macht, trotz der Beweise, die sie vorgelegte, trotz Fotos von den Drohungen, die er auf Wände schmierte, trotz Mordfantasien, die er mit Freunden via SMS austauschte, trotz der Bilder, auf denen sie mit Kratzern, Beulen, blauen Flecken zu sehen ist. Wirklich alles erlogen? Bei häuslicher Gewalt soll die Dunkelziffer enorm sein, weil die Opfer es selten wagen, ihre Qualen öffentlich zu machen. Angesichts dessen, was Heard derzeit an Anwürfen erlebt, wundert man sich nicht, dass andere lieber schweigen.
Der Prozess wird noch dauern. Egal, wie er ausgeht, in der digitalen Öffentlichkeit hat Depp ihn schon gewonnen. 50 Millionen hin, 100 Millionen her. Wahrscheinlich ist das der Sieg, der wirklich zählt.