Im Triumph aus dem Tal der Tränen
Die ÖVP rückt eng zusammen, 100 Prozent der Delegierten wählten Kanzler Karl Nehammer zum neuen Parteichef. Sebastian Kurz hielt sich zurück. Inhaltlich übt man den Rückgriff auf Bewährtes.
In der Stunde der Not rückt man bekanntlich eng zusammen: In der Wagenburg ist kein Platz für inneren Streit. So war es auch am Samstag beim Bundesparteitag der ÖVP in Graz, und die rund 1000 Besucher merkten das körperlich. Dichte Sesselreihen füllten den fensterlosen Saal. Zusätzlich mussten rund 200 Gäste fast drei Stunden lang mit einem Stehplatz vorliebnehmen.
Aber das sind Opfer, die gerne erbracht wurden, um die nötig gewordene Zeitenwende in eine geballte Machtdemonstration zu verwandeln. Erst im August des Vorjahres hatte die Partei Sebastian Kurz mit 99,4 Prozent im Obmann-Amt einbetoniert. Diesmal setzte sie noch einen drauf: Karl Nehammer, der das schwere Kurz-Erbe antreten muss, wurde zum Mister 100 Prozent. Kein einziger der 524 Delegierten scherte aus. Denn alle in der gebeutelten Kanzlerpartei wollen raus aus dem Tal der Tränen. Man sehnt sich nach Ruhe, Geschlossenheit und einer Rückkehr auf die Erfolgsstraße. Das war auch abseits des Ergebnisses deutlich zu spüren auf diesem Konvent.
Dass Nehammer seit seinem Einzug ins Kanzleramt im „Dauerkrisenmodus“ist, hatte zuvor Klubchef August Wöginger betont: „Er steuert als Kapitän das Schiff durch einen Sturm“, formulierte er und stachelte die Partei mit einer gezielten Attacke auf: „Machen wir’s ned so wie die Roten: Standing Ovations für Pam – und ein Viertel wählt sie dann nicht.“Gelächter und Beifall.
Damit war der Grundton gesetzt. Viele Attacken auf die SPÖ, Hadern mit dem Gegenwind und den unfairen Attacken, dazu Verweise auf Ukraine-Krieg, Pandemie,
Teuerung und unsichere Zeiten: Das war der Cocktail, der die Spur zum makellosen 100-Prozent-Votum legte. Den heftigsten Applaus des Tages erntete weder Nehammer noch Kurz, sondern Altkanzler Wolfgang Schüssel – als Lohn für die Verwandlung eines ziemlich leichten Elfmeters. Schüssel hatte die ÖVP als Partei der „individuellen Freiheit“gelobt und dann in den Saal gedonnert: „Wo ist der Rechtsschutz für den Einzelnen in der Justiz? Wer kämpft für den Rechtsstaat?“Das war Balsam auf die wunden Seelen, „Bravo“Rufe hallten durch den Raum. Auch Schüssels Forderung, die ÖVP müsse „lernen, wieder zu kämpfen“fiel auf fruchtbaren Boden.
Dabei war der 76-jährige Schüssel von der Regie eigentlich als Pausenfüller vorgesehen, als eine Art Bindemittel für den 35-jährigen Sebastian Kurz. Der hatte zwar sowieso nicht vor, das Nehammer-Fest mit einem starken Abgang zu stören. Doch in jenem Moment, als er mit Schüssel auf der Bühne stand, ergriff ein Quantum Unsicherheit den Saal. Es war absolut still. Kurz verzichtete auf politische Botschaften, sprach über seine politische Sozialisation in den Schüssel-Kanzlerjahren und dann über seinen neuen Job, seine Dienstreisen, seine Familie. Rund 20 Tage pro Monat verbringe er jetzt im Ausland, nur acht bis zehn daheim.
Die Abschiedsworte an seine Parteifreunde hörten sich an wie die höflich-schonende Beendigung einer Liebesbeziehung: Die Wahlerfolge 2017 und 2019 seien „sicher prägende Erlebnisse“gewesen, „die ich niemals vergessen werde“. Es seien wunderschöne Jahre gewesen, meinte Kurz und endete mit den Worten: „Vielen, vielen Dank für diese gemeinsame Zeit.“
Die Nehammer-Rede, gedacht als kraftvoller Höhepunkt des Tages, begann mit einem dick auftragenden
Imagefilm: Nehammer am Kanzler-Schreibtisch, in Kiew bei Selenskyj, sinnierend und nachdenklich in Hemdsärmeln. Eine Aussage: Immer, wenn die Volkspartei Verantwortung getragen habe, sei es „gut ausgegangen“für das Land.
Doch die Rede selbst brachte nur für kurze Momente Energie in den Raum, meist plätscherte sie unstrukturiert dahin. Nehammer lobte namentlich alle VP-Regierungsmitglieder, bedankte sich einmal kurz bei den Grünen, kam rund ein dutzendmal auf die Pandemie und mehrmals auf die SPÖ zu sprechen. Zentrale Aussagen: Die Gegner agierten unter der Gürtellinie, weil sie es auf Augenhöhe nicht schaffen, „aber wir werden dadurch stark“. Die Zeiten sind unsicher, da sei die Volkspartei eine verlässliche, historisch bewährte Antwort.
Konkreter wurde Nehammer in der Energiepolitik: Es werde ein „Transmissionsfonds“eingerichtet, und zwar als „Milliardenfonds“, der den Übergang von fossilen zu regenerativen Brennstoffen finanzieren soll. Auf dem Arbeitsmarkt müsse „die Rot-Weiß-Rot-Card anwendungsfreundlich werden“, um den Arbeitskräftemangel zu lindern. Auch die illegale Migration sprach der Kanzler an, während er das Thema Teuerung (anders als zuvor Wöginger) nur streifte. Er werde auch als Parteichef „ein Lernender sein“, versprach er zum Abschluss.
Mit Nehammer sei die Partei „wieder in der Realität des Lebens angekommen“, hatte der steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer zum Auftakt des Treffens angemerkt. Doch die Politik sei heutzutage zum „Freiwild“geworden: „Der Karl ist in einer nicht beneidenswerten Position.“