Hiebe und Liebe
Von seiner gebeutelten Partei bekam Karl Nehammer gestern die größtmögliche Anschubhilfe für einen Neubeginn als ÖVP-Chef und Kanzler. Er wird sie brauchen.
Es ist nicht einfach, große Markierungen zu setzen, wenn sich vor einem ständig neue Schlaglöcher auftun. Karl Nehammer kennt das. Die Krisen der Gegenwart und die Verwerfungen in der Partei prägten die Monate als Kanzler. Für Perspektivisches blieb wenig Raum. Auch die Erwartungen einer neuen Programmatik im Vorfeld des Parteitages erwiesen sich als überhöht. Das große Bild, das Auskunft darüber gibt, was das sein könnte, eine moderne konservative Partei in Zeiten großer Unordnung, blieb gestern bestenfalls skizzenhaft. Die antikapitalistische Volte gegen die Stromversorger offenbart die Orientierungsnot. Alles fließt. Stattdessen viel Aufbruchsrhetorik: Um sie glaubhaft zu unterfüttern, hätte es dann doch ein paar leiser, selbstkritischer Anmerkungen zu den internen Schadensfällen bedurft. Sie unterblieben. Die Partei unterforderte sich.
So war dieser Parteitag ein Hochamt der Gruppendynamik gegen die Unwirtlichkeiten der Außenwelt. Die Stimmung nahm Anleihe bei Simmel: Mich wundert, dass ich so fröhlich bin. Der Kanzler bekam jenen Zuspruch, den er für die Festigung in der Führungsrolle benötigt. Über die Nachhaltigkeit der hundert Prozent wird er sich keiner Illusion hingeben. Sie allein machen noch kein Gravitationszentrum. Liebe und Hiebe sind in der ÖVP Zwillinge, es kann schnell gehen.
Die Partei will nicht mehr „neu“sein, aber ganz die Alte darf sie auch nicht sein. Die Welt ist nicht bündisch. In diesem Zwischenraum sitzt die ÖVP fest. Der Gestärkte muss sie von dort herausführen. Wenn sie sich führen lässt. Die Loslösung von Sebastian Kurz vollzog sich letztlich unfallfrei, mit viel stillem Bemühen um Glättung. Nehammer muss für ein anderes Politikmodell stehen. Das Führen aus einer Clique heraus, die Loyalitätsexzesse, die kultische Zuspitzung auf eine Person – was keiner Organisation guttut, hat auch der ÖVP nicht gutgetan. Nehammers Markenkern muss die Solidität sein, die eigene und die des Teams: genug gewürfelt. Martin Kocher aufzuwerten, war klug. Die Digitalität, genetisches Leck des Landes, herauszulösen, ebenso. Die Fortschrittlichen haben dafür eigene Minister. ill der Kanzler auch von den Wählern bestätigt werden, sollte er an zwei Leitplanken des Vorgängers festhalten: an einer prononcierten Sozialpolitik in Zeiten des Wohlstandsbruchs sowie an einer kontrollierten Migration. Es liegt an Nehammer, dem Thema das manisch Ideologische zu nehmen und Pragmatismus dort zuzulassen, wo es um qualifizierten Zuzug geht. Es darf kein Land sein, das abweisend ist gegenüber allem, was nicht aus dem Land kommt. Wer das in Kauf nimmt, schadet dem Land und macht es eng.
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