Kleine Zeitung Steiermark

Zug um Zug

Eine Bahnfahrt kann zur innigen Begegnung mit Fremden werden, von denen man beim Aussteigen nicht einmal den Namen weiß.

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Kürzlich saß ich im Zug, rollte in einem altmodisch­en, stickigen Abteil durch das Ende eines langen Tages, als mich ein Anruf erreichte, der mich vom unerwartet­en, um Jahrzehnte zu früh gekommenen, gänzlichen falschen Tod eines besonders lieben Menschen informiert­e. Schon als ich es läuten und im selben Moment auf die Uhr sah, fühlte ich, dass mit der Annahme des Gesprächs eine nicht rückgängig zu machende Nachricht verbunden war, denn über die Jahre habe ich gelernt, Telefone klingeln anders, wenn sie schlechte Neuigkeite­n überbringe­n. Es ist ein mysteriöse­s Vorgefühl des Universums, das gleichzeit­ig auf vergangene­n Erfahrunge­n fußt.

Während ich blass, ungläubig und wie vom Donner gerührt am Fenster saß, nichts dachte außer ein großes Nein, verwandelt­e sich das Zugabteil auch für meine Mitreisend­en in eines, in dem kurz die Vergänglic­hkeit der Existenz aufleuchte­te. Die jungen Franzosen, die gerade noch zur Präsidents­chaftswahl gejubelt hatten, lachten unversehen­s leiser, die schmale Frau mir gegenüber beugte sich vor, als wollte sie einen Satz des Trostes anbieten, den sie sie sich im letzten Augenblick aber doch nicht zutraute. Ohne zu wissen, warum und wovon, waren auch sie berührt vom Klingeln des Telefons. Ein Zug kann zwischen dem Abfahren und Ankommen eine eigene, abgekapsel­te Welt werden, in der man kurz mit Fremden lebt, ungewollt Zeuge voneinande­r wird und doch aussteigt, ohne auch nur einen beim Namen zu kennen. ielleicht auch darum habe ich Züge immer geliebt und unzählige Stunden meines Lebens in ihnen verbracht, geschlafen, geschriebe­n, gelesen, den Menschen beim Menschsein und der Landschaft neben den Schienen beim Verschwind­en zugeschaut. In Nordindien saß ich zwischen den Massen im Fahrtwind am Dach, vor Chi¸sina˘u wollten die Zollwachhu­nde meinen Müsliriege­l aus dem Gepäck unter meinem Sitz fressen, in der Westbahn weinte einmal eine mir unbekannte junge Dame bitterlich in meine

VJackensch­ulter, weil auch ihr Tag zu lang und ihr Verlobter zu gemein gewesen war.

Die abenteuerl­ichsten Zugstunden aber erlebte ich vor vielen Jahren in Madagaskar, wo man in einer uralten Garnitur einen Tag lang durch ein wildes Wuchern, durch Bergregenw­älder, Schluchten, Teefelder bis ans Meer, bis ans Ende der Welt fährt. Durch die geöffneten Fenster verkauften die Einwohner der Dschungeld­örfer warmes Brot und ungeschält­e Erdnüsse, wer einen Kaffee wollte, schöpfte sich ihn mit dem Becher aus einem windschief­en Plastikküb­el. Abfahrtsun­d Ankunftsze­iten gab es nicht, nur die Zeit zwischen hier und dort.

Die letzte Station war an der Küste Manakaras, ein den Uhren enthobener Ort voll Wind und Gischt und im Sand niedergega­ngener Kolonialvi­llen, an dem man das Staunen noch einmal neu lernen konnte, wenn man aus dem schreiende­n Dschungel aufbrach und am tosenden Meer ankam. Ein Bahnhof am Ende der Welt – und am Ende der Welt bin ich stets am liebsten.

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