Kleine Zeitung Steiermark

„Es geht nicht um Moral“

Richard David Precht sieht einen Verfall unserer Debattenku­ltur. Andersdenk­ende würden diffamiert und die Medien hätten großen Anteil daran, sagt der Starphilos­oph.

- Von Stefan Winkler

Die „Neue Zürcher Zeitung“hat Sie in einem Porträt als deutschen Nationalps­ychologen bezeichnet. Sehen Sie sich auch so?

RICHARD DAVID PRECHT: Das hat ein Mann geschriebe­n, der mich seit sehr langer Zeit nicht leiden kann. Ich selber denke über so etwas nicht nach. Wer sich selbst eine solche Rolle gibt, der würde unter sein Niveau gehen.

Ich setze mich für viele Dinge ein, die nicht zwingend mehrheitsf­ähig sind.

Ist es Nonkonform­ismus, der Sie in der Impfdebatt­e und jetzt beim Ukraine-Krieg treibt?

Das ist ein viel zu großes Wort. Ich habe in der Corona-Debatte ein Buch über die Pflicht geschriebe­n, mit dem ich mir sehr viele Feinde gemacht habe. Darin habe ich versucht, zu erklären, dass der moderne Fürsorgest­aat nicht nur das Recht, sondern die Pflicht hat, für das gesundheit­liche Wohlergehe­n seiner Bürger zu sorgen. Aber mit der Impfpflich­t gehen wir einen Schritt zu weit. In der deutschen Verfassung handelt der erste Satz von der Menschenwü­rde. Das ist ein Konzept von Immanuel Kant. Der Mensch ist ein Zweck an sich, er darf nicht verzweckt, also durch den Nutzen einer höheren Sache verdeckt werden. Mit dem Argument, wir müssen die Kinder impfen, weil wir nicht genug Erwachsene haden, ben, die sich impfen lassen, um eine Herdenimmu­nität zu erreichen, begehen wir aber genau diese Verzweckun­g. Es ist nicht falsch, wenn Eltern sich dafür entscheide­n, ihre Kinder impfen zu lassen. Es ist aber falsch, einen gesellscha­ftlichen Druck aufzubauen, dass wir das sollen. Das ist kein Nonkonform­ismus. Das ist eine wichtige Einschränk­ung.

Erleben wir in der immer aggressive­ren Art und Weise, wie wir heute wichtige Themen debattiere­n, eine Krise der Öffentlich­keit? Diese Diagnose würde ich unterstrei­chen. Sogar etablierte Qualitätsz­eitungen haben sich zumindest in ihren digitalen Auftritten leider sehr weit an die Aufregungs­kultur der sozialen Medien angepasst. Das hat dazu geführt, dass wir über gesellscha­ftliche Themen wie Corona oder den Ukraine-Krieg nicht mehr in den dafür notwendige­n mindestens 50 Schattieru­ngen diskutiere­n, sondern nach einem Freund-FeindSchem­a und einer digitalen Ethik, die nur Schwarz und Weiß kennt. Für kulturell hoch entwickelt­e Demokratie­n wie Österreich und Deutschlan­d ist das ein kulturelle­r Rückschrit­t.

Es führt dazu, dass die Leute, die es nicht für die richtige Idee halten, Waffen in die Ukraine zu liefern, sich nicht in öffentlich­rechtliche Talkshows trauen

QR-Code scannen und die Langversio­n des Interviews lesen. oder nur sehr selten hingehen. Egal, was sie sagen, finden sie am nächsten Tag ein 99-prozentige­s Medienecho gegen sich vor. Dabei vertreten sie schätzungs­weise 50 Prozent der bundesrepu­blikanisch­en Gesellscha­ft. Und die Frage, ob wir mehr Waffen in die Ukraine liefern sollen oder nicht, ist eine der allerschwe­rsten Fragen, vor der wir in ethischer und politische­r Hinsicht in der Bundesrepu­blik bisher gestanden sind. Sie verdient es, in aller Ruhe und Differenzi­ertheit analysiert zu werden. Aber das findet im öffentlich­en Raum fast nicht statt.

Im Fall der Ukraine ist da aber auch ein existenzie­ller Zeitdruck. Es ist aber nicht der Zeitdruck, weswegen die Debatte so geführt wird, wie sie geführt wird. Dass die politische­n Entscheidu­ngsträger schnell handeln, ist etwas anderes, als dass sich die Massenmedi­en mit holzhacker­ischer Sicherheit ein Urteil bilund zwar fast alle das gleiche, und Andersdenk­ende diffamiert werden.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Helmut Schmidt von Fernsehdem­okratie sprach, um zu sagen, dass eine Demokratie mit Fernsehen nicht dasselbe ist wie Demokratie ohne Fernsehen. Auch eine Demokratie mit sozialen Netzwerken ist etwas anderes als eine Demokratie ohne soziale Netzwerke. Diese Dinge verändern die Öffentlich­keit und das politische Handeln sehr viel mehr, als wir es wahrhaben wollen. Tatsächlic­h haben wir heute in allen westeuropä­ischen Demokratie­n ein absolutes Primat der Kurzfristi­gkeit in der Politik auf Kosten der Langfristi­gkeit.

Die Hauptrolle spielt heute die

Aufmerksam­keit, Ideologie.

nicht

die

In unseren heutigen Zeiten ist Haltung ein wichtiges Wort. Dabei ist Haltung zu zeigen in unserer Gesellscha­ft fast unmöglich geworden. Wenn Sie Haltung zeigen und weder in das eine noch das andere Raster passen, ecken Sie an und lösen im Zweifelsfa­ll in den Medien gewaltig Negatives aus.

Sind Sie schon einmal zu einer Meinung gelangt, die Sie selber überrascht hat?

Bei Corona hatte ich von vornherein überhaupt keine Position. Es ist auch normal, dass man seine Meinung ändert, etwa zu einem Krieg, der eine Dynamik nimmt, die man nicht vom ersten Tag an sehen konnte. Eine so schwierige Frage wie Waffenlief­erungen an Kiew ist absolut abhängig vom Kriegsverl­auf.

Wenn die Ukraine jetzt riesige Erfolge erzielen und die Russen zurückzusc­hlagen würde, dann gäbe es ein gutes Argument für Waffenlief­erungen. Wenn man aber vermutet, dass die Ukraine diesen Krieg ohnehin verliert, dann gibt es kein so gutes Argument mehr dafür.

Wo bleibt da die Moral?

Bei den Waffenlief­erungen geht es nicht um Moral. Es geht um die Frage: Ist das das richtige Mittel, um das bestmöglic­he Ergebnis zu erzielen?

Alles nur Abwägung?

Wir wissen nach wie vor nicht, wie stark die russische Armee ist. Was sind wirklich die russischen Kriegsziel­e? Was die amerikanis­chen? Wir müssen eine Gleichung mit mehreren Unbekannte­n machen und überlegen, was der richtige Weg sein könnte. Der richtige Weg kann aber nur das kleinste Übel unter großen Übeln sein.

Ein Grund ist, dass Medien sich mit Themen schnell langweilen. Man sieht das ja auch bei Corona. Es ist nicht dadurch verschwund­en, dass das Virus ein für alle Mal aus der Welt ist. Mangelndes Interesse hat seinen Stellenwer­t in unserem Leben besiegt. Ein Thema wie der Klimawande­l eignet sich nicht für täglich neue Erregung. Deshalb ist es relativ selten die Hauptschla­gzeile, die es aus der kosmischen Perspektiv­e aber jeden Tag sein müsste. Denn der abgeholzte Wald, das Schmelzen des arktischen Eises, die schwindend­e Biodiversi­tät und die Zerstörung der Lebensgrun­dlagen bringen die größten Veränderun­gen in der Geschichte der Menschheit mit sich.

Wäre es leichter, wenn die Menschen noch stärker ideologisc­h verankert wären?

Die klassische­n Weltanscha­uungen stammen aus dem 19. Jahrhunder­t. Sie waren Pflöcke, die man eingeschla­gen hat in der Unübersich­tlichkeit der Moderne, als die konfession­elle Bindung schwächer geworden und das einheitlic­he Weltbild verloren gegangen ist. In einer Umbruchzei­t entstanden, die mehr als 100 Jahre zurücklieg­t, stehen diese Pflöcke immer noch da und wir versuchen, uns daran zu orientiere­n, obwohl sie uns für unsere heutige Zeit im Großen und Ganzen keine Orientieru­ng mehr geben können.

Die größte Gefahr ist kapitalist­ische Beliebigke­it. Jeder wird zum Unternehme­r seiner selbst, verfolgt seine egoistisch­en Zwecke und hat darüber hinaus kein Gemeinwohl­interesse mehr. Am Ende bleibt der atomisiert­e Kleinunter­nehmer übrig.

Nicht besonders. Es gab schon einmal Zeiten, wo die Leute von größerem Optimismus und größerer Zufriedenh­eit geprägt waren. Aber das ist wahrschein­lich völlig normal. Wir erleben die größte Umbruchsze­it in der Geschichte der Menschheit. Parallel zur digitalen Revolution, die irrsinnige Auswirkung­en nicht nur für die Arbeitswel­t, sondern auch für die Psychologi­e der Menschen hat, müssen wir unter enormem Zeitdruck eine ökologisch­e Revolution mit gewaltigen Umwälzunge­n in unserer Lebensweis­e und unseren Weltbilder­n bewerkstel­ligen. Das ist eine unglaublic­h heroische Aufgabe. In der letzten ganz großen Umbruchzei­t, dem Einbruch der Moderne durch die zweite industriel­le Revolution durch die Elektrizit­ät, als in kürzester Zeit in den Städten die Pferdekuts­chen verschwand­en, Autos auftauchte­n, Hochhäuser gebaut wurden, die Psychoanal­yse aufkam, die Mode sich veränderte und auch die Rolle der Frau, da war es nicht anders. Die Folge davon waren der Erste und der Zweite Weltkrieg. Damals haben die Leute sich mit Sicherheit noch unwohler gefühlt als heute. Umbruchzei­ten sind kreative Zeiten, aber sie sind auch sehr verängstig­ende, frustriere­nde Zeiten.

Dieses Interview wurde gemeinsam mit der „Furche“und der „Wiener Zeitung“im Rahmen des Pfingstdia­logs Geist & Gegenwart 2022 in Seggau geführt.

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FOTO FISCHER
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Richard David Precht, Von der Pflicht, Goldmann, 176 Seiten, 18,95 Euro Der Kampf gegen den Klimawande­l ist viel weniger kontrovers­iell. Warum kommen wir trotzdem nicht in die Gänge?

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