„Es geht nicht um Moral“
Richard David Precht sieht einen Verfall unserer Debattenkultur. Andersdenkende würden diffamiert und die Medien hätten großen Anteil daran, sagt der Starphilosoph.
Die „Neue Zürcher Zeitung“hat Sie in einem Porträt als deutschen Nationalpsychologen bezeichnet. Sehen Sie sich auch so?
RICHARD DAVID PRECHT: Das hat ein Mann geschrieben, der mich seit sehr langer Zeit nicht leiden kann. Ich selber denke über so etwas nicht nach. Wer sich selbst eine solche Rolle gibt, der würde unter sein Niveau gehen.
Ich setze mich für viele Dinge ein, die nicht zwingend mehrheitsfähig sind.
Ist es Nonkonformismus, der Sie in der Impfdebatte und jetzt beim Ukraine-Krieg treibt?
Das ist ein viel zu großes Wort. Ich habe in der Corona-Debatte ein Buch über die Pflicht geschrieben, mit dem ich mir sehr viele Feinde gemacht habe. Darin habe ich versucht, zu erklären, dass der moderne Fürsorgestaat nicht nur das Recht, sondern die Pflicht hat, für das gesundheitliche Wohlergehen seiner Bürger zu sorgen. Aber mit der Impfpflicht gehen wir einen Schritt zu weit. In der deutschen Verfassung handelt der erste Satz von der Menschenwürde. Das ist ein Konzept von Immanuel Kant. Der Mensch ist ein Zweck an sich, er darf nicht verzweckt, also durch den Nutzen einer höheren Sache verdeckt werden. Mit dem Argument, wir müssen die Kinder impfen, weil wir nicht genug Erwachsene haden, ben, die sich impfen lassen, um eine Herdenimmunität zu erreichen, begehen wir aber genau diese Verzweckung. Es ist nicht falsch, wenn Eltern sich dafür entscheiden, ihre Kinder impfen zu lassen. Es ist aber falsch, einen gesellschaftlichen Druck aufzubauen, dass wir das sollen. Das ist kein Nonkonformismus. Das ist eine wichtige Einschränkung.
Erleben wir in der immer aggressiveren Art und Weise, wie wir heute wichtige Themen debattieren, eine Krise der Öffentlichkeit? Diese Diagnose würde ich unterstreichen. Sogar etablierte Qualitätszeitungen haben sich zumindest in ihren digitalen Auftritten leider sehr weit an die Aufregungskultur der sozialen Medien angepasst. Das hat dazu geführt, dass wir über gesellschaftliche Themen wie Corona oder den Ukraine-Krieg nicht mehr in den dafür notwendigen mindestens 50 Schattierungen diskutieren, sondern nach einem Freund-FeindSchema und einer digitalen Ethik, die nur Schwarz und Weiß kennt. Für kulturell hoch entwickelte Demokratien wie Österreich und Deutschland ist das ein kultureller Rückschritt.
Es führt dazu, dass die Leute, die es nicht für die richtige Idee halten, Waffen in die Ukraine zu liefern, sich nicht in öffentlichrechtliche Talkshows trauen
QR-Code scannen und die Langversion des Interviews lesen. oder nur sehr selten hingehen. Egal, was sie sagen, finden sie am nächsten Tag ein 99-prozentiges Medienecho gegen sich vor. Dabei vertreten sie schätzungsweise 50 Prozent der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Und die Frage, ob wir mehr Waffen in die Ukraine liefern sollen oder nicht, ist eine der allerschwersten Fragen, vor der wir in ethischer und politischer Hinsicht in der Bundesrepublik bisher gestanden sind. Sie verdient es, in aller Ruhe und Differenziertheit analysiert zu werden. Aber das findet im öffentlichen Raum fast nicht statt.
Im Fall der Ukraine ist da aber auch ein existenzieller Zeitdruck. Es ist aber nicht der Zeitdruck, weswegen die Debatte so geführt wird, wie sie geführt wird. Dass die politischen Entscheidungsträger schnell handeln, ist etwas anderes, als dass sich die Massenmedien mit holzhackerischer Sicherheit ein Urteil bilund zwar fast alle das gleiche, und Andersdenkende diffamiert werden.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Helmut Schmidt von Fernsehdemokratie sprach, um zu sagen, dass eine Demokratie mit Fernsehen nicht dasselbe ist wie Demokratie ohne Fernsehen. Auch eine Demokratie mit sozialen Netzwerken ist etwas anderes als eine Demokratie ohne soziale Netzwerke. Diese Dinge verändern die Öffentlichkeit und das politische Handeln sehr viel mehr, als wir es wahrhaben wollen. Tatsächlich haben wir heute in allen westeuropäischen Demokratien ein absolutes Primat der Kurzfristigkeit in der Politik auf Kosten der Langfristigkeit.
Die Hauptrolle spielt heute die
Aufmerksamkeit, Ideologie.
nicht
die
In unseren heutigen Zeiten ist Haltung ein wichtiges Wort. Dabei ist Haltung zu zeigen in unserer Gesellschaft fast unmöglich geworden. Wenn Sie Haltung zeigen und weder in das eine noch das andere Raster passen, ecken Sie an und lösen im Zweifelsfall in den Medien gewaltig Negatives aus.
Sind Sie schon einmal zu einer Meinung gelangt, die Sie selber überrascht hat?
Bei Corona hatte ich von vornherein überhaupt keine Position. Es ist auch normal, dass man seine Meinung ändert, etwa zu einem Krieg, der eine Dynamik nimmt, die man nicht vom ersten Tag an sehen konnte. Eine so schwierige Frage wie Waffenlieferungen an Kiew ist absolut abhängig vom Kriegsverlauf.
Wenn die Ukraine jetzt riesige Erfolge erzielen und die Russen zurückzuschlagen würde, dann gäbe es ein gutes Argument für Waffenlieferungen. Wenn man aber vermutet, dass die Ukraine diesen Krieg ohnehin verliert, dann gibt es kein so gutes Argument mehr dafür.
Wo bleibt da die Moral?
Bei den Waffenlieferungen geht es nicht um Moral. Es geht um die Frage: Ist das das richtige Mittel, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen?
Alles nur Abwägung?
Wir wissen nach wie vor nicht, wie stark die russische Armee ist. Was sind wirklich die russischen Kriegsziele? Was die amerikanischen? Wir müssen eine Gleichung mit mehreren Unbekannten machen und überlegen, was der richtige Weg sein könnte. Der richtige Weg kann aber nur das kleinste Übel unter großen Übeln sein.
Ein Grund ist, dass Medien sich mit Themen schnell langweilen. Man sieht das ja auch bei Corona. Es ist nicht dadurch verschwunden, dass das Virus ein für alle Mal aus der Welt ist. Mangelndes Interesse hat seinen Stellenwert in unserem Leben besiegt. Ein Thema wie der Klimawandel eignet sich nicht für täglich neue Erregung. Deshalb ist es relativ selten die Hauptschlagzeile, die es aus der kosmischen Perspektive aber jeden Tag sein müsste. Denn der abgeholzte Wald, das Schmelzen des arktischen Eises, die schwindende Biodiversität und die Zerstörung der Lebensgrundlagen bringen die größten Veränderungen in der Geschichte der Menschheit mit sich.
Wäre es leichter, wenn die Menschen noch stärker ideologisch verankert wären?
Die klassischen Weltanschauungen stammen aus dem 19. Jahrhundert. Sie waren Pflöcke, die man eingeschlagen hat in der Unübersichtlichkeit der Moderne, als die konfessionelle Bindung schwächer geworden und das einheitliche Weltbild verloren gegangen ist. In einer Umbruchzeit entstanden, die mehr als 100 Jahre zurückliegt, stehen diese Pflöcke immer noch da und wir versuchen, uns daran zu orientieren, obwohl sie uns für unsere heutige Zeit im Großen und Ganzen keine Orientierung mehr geben können.
Die größte Gefahr ist kapitalistische Beliebigkeit. Jeder wird zum Unternehmer seiner selbst, verfolgt seine egoistischen Zwecke und hat darüber hinaus kein Gemeinwohlinteresse mehr. Am Ende bleibt der atomisierte Kleinunternehmer übrig.
Nicht besonders. Es gab schon einmal Zeiten, wo die Leute von größerem Optimismus und größerer Zufriedenheit geprägt waren. Aber das ist wahrscheinlich völlig normal. Wir erleben die größte Umbruchszeit in der Geschichte der Menschheit. Parallel zur digitalen Revolution, die irrsinnige Auswirkungen nicht nur für die Arbeitswelt, sondern auch für die Psychologie der Menschen hat, müssen wir unter enormem Zeitdruck eine ökologische Revolution mit gewaltigen Umwälzungen in unserer Lebensweise und unseren Weltbildern bewerkstelligen. Das ist eine unglaublich heroische Aufgabe. In der letzten ganz großen Umbruchzeit, dem Einbruch der Moderne durch die zweite industrielle Revolution durch die Elektrizität, als in kürzester Zeit in den Städten die Pferdekutschen verschwanden, Autos auftauchten, Hochhäuser gebaut wurden, die Psychoanalyse aufkam, die Mode sich veränderte und auch die Rolle der Frau, da war es nicht anders. Die Folge davon waren der Erste und der Zweite Weltkrieg. Damals haben die Leute sich mit Sicherheit noch unwohler gefühlt als heute. Umbruchzeiten sind kreative Zeiten, aber sie sind auch sehr verängstigende, frustrierende Zeiten.
Dieses Interview wurde gemeinsam mit der „Furche“und der „Wiener Zeitung“im Rahmen des Pfingstdialogs Geist & Gegenwart 2022 in Seggau geführt.