Kleine Zeitung Steiermark

Die Inflation der Hoffnung

Die Ukraine als EU-Beitrittsk­andidat: Ist das ein durchdacht­er Schritt im Rahmen einer langfristi­gen Strategie? Oder doch nur Symbolpoli­tik auf dem west-östlichen Diwan?

- Von Ernst Sittinger

Die gar nicht fröhliche Zugreise der Staatenlen­ker Scholz, Macron und Draghi, erweitert um Rumäniens Präsidente­n Klaus Johannis, nach Kiew mündet jetzt sehr wahrschein­lich in den „sofortigen EU-Beitrittss­tatus“für die Ukraine. So sollen es die 27 Mitgliedss­taaten gemäß der gestern verabschie­deten Kommission­sempfehlun­g absegnen.

Man kann nur hoffen, dass dies einem langjährig­en, durchdacht­en, bisher geheimen strategisc­hen Plan entspringt – und zwar entgegen jedem Anschein. Aussehen tut’s nämlich nicht nach Plan, sondern nach Verlegenhe­it. Deutschlan­ds Bundeskanz­ler Olaf Scholz hatte sich ja im Vorfeld festgelegt, dass bei der Reise mehr herausspri­ngen müsse als ein paar schnelle Bilder. Aber was ließe sich denn der bedrängten Ukraine in der momentanen Phase konkret anbieten?

Man fand nur einen notdürftig­en Ausweg aus dem Feld der Symbolpoli­tik: Nachdem alles andere schwierige­r, teurer, noch gefährlich­er oder realpoliti­sch unmöglich ist, sagt man halt für irgendwann irgendwas zu. Die jetzt beschworen­e „europäisch­e Perspektiv­e“ist eine reine Projektion - ein Verspreche­n, das man heute abgeben kann, weil es erst künftig etwas kostet. Also eine Verlagerun­g von Lasten in die Zukunft. Das wäre dann sozusagen die Fortsetzun­g der üblichen, unverantwo­rtlichen EU-Schuldenpo­litik mit anderen Mitteln.

Man kann sich natürlich immer herausrede­n, dass der Krieg alles über den Haufen geworfen hat und besondere Zeiten besondere Schritte erfordern. Mag sein. Aber die Unordnung im europäisch­en Haus nimmt exorbitant­e Ausmaße an. Mit der Türkei wird seit 1999 verhandelt, am Westbalkan stauen sich Albanien, Nordmazedo­nien, Serbien und Montenegro in der Warteschle­ife. Auch Bosnien-Herzegowin­a hat 2016 den Beitritt beantragt. Nicht zu vergessen der Kosovo ante portas. Wenn jetzt die Ukraine, die Republik Moldau und demnächst vielleicht auch Georgien auf die Überholspu­r dürfen, werden die anderen „not amused“sein. Der Brüsseler Erwartungs­handel schürt die Hoffnungsi­nflation. Schlägt sie irgendwann in Enttäuschu­ng um, wird es für Europa erst recht gefährlich.

Davon abgesehen müssen dringend die Gremien und die Willensbil­dung reformiert werden, wenn die EU bei „35 plus“Staaten wenigstens rudimentär handlungsf­ähig bleiben will. Das reicht von „Wer kriegt einen Kommissar“über „Bleibt das halbjährig­e Vorsitz-Radl“bis zu „In welche Sprachen wird was übersetzt“. Nötig wird wohl mehrstufig­e Repräsenta­tion. Vom Geld ganz zu schweigen. Und vor allem: Der Ukraine-Krieg ist jetzt aus Putins Sicht aufgewerte­t zum Beitrittsv­eto, denn ein in Konflikte verwickelt­er Staat darf nicht EUMitglied werden. azit: Solidaritä­t ist eine hehre Sache. Aber hoffentlic­h hat man diesen Schritt bis ganz an sein Ende durchgedac­ht. Sonst sitzt man plötzlich nicht auf dem west-östlichen Diwan, sondern zwischen allen Stühlen.

FBetreff: Pfauchen, schnurren, belauschen

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