Die vergessene Katastrophe
Ein Lachen geht durch die Runde. Die Journalisten warten auf die Übersetzung, um zu verstehen, was die ansonsten von Verzweiflung gezeichneten Gesichter in einem kleinen Dorf am Stadtrand von Shashamane im Süden Äthiopiens für einen Moment amüsiert. Der Übersetzer klärt auf: Nach seinem Berufswunsch gefragt, hat der 12-jährige Tamam Tesho geantwortet, er möchte einmal für die Regierung arbeiten. Die Vorstellung, die Regierung könne der Dürre oder anderen grundlegenden Problemen des Landes tatsächlich etwas entgegensetzen, ist wohl lächerlich – auch wenn das so niemand ausspricht.
Doch Tamam meint es ernst, er will einmal dafür sorgen, dass das Land reicher wird, vor allem die ganz Armen genug zu essen haben. Die paar Zettel in seiner Hand täuschen darüber hinweg, dass er schon zwei Monate nicht mehr in der Schule war. Besonders die Fächer Geografie und Englisch fehlen ihm. Anstatt die Schulbank zu drücken, schiebt Tamam jetzt täglich Handkarren. In Zeiten wie diesen packt jeder mit an. Weder Viehhaltung noch der Anbau von Teff bringen ausreichende Erträge. Nicht einmal das normalerweise sehr genügsame Getreide bildet genügend Samen, um es zu verwerten. Also lässt man die abgemagerten Kühe auf den staubtrockenen Feldern grasen.
Wie das ganze Horn von Afrika leidet auch Äthiopien massiv unter der anhaltenden Dürre, in vielen Regionen sind die letzten drei Regenzeiten ausgeblieben. Dazu kommen Heuschreckenplagen, die ganze Landstriche verwüsteten, der Bürgerkrieg im Norden und nicht zuletzt der UkraineKrieg, der die Katastrophe auch medial überschattet. Bitter benötigte Weizenlieferungen bleiben aus, die Inflation grassiert. 7,4 Millionen Menschen im Land benötigen Nahrungsmittelhilfe.
Ein Nomadendorf unweit der Grenze zu Kenia – es ist auf der Landkarte nicht verzeichnet – trifft es hart. Aki Godana (60) stapelt vor ihrer Hütte mit den anderen Frauen Dutzende Kuhhäute, um den Besuchern aus Österreich das Ausmaß der Dürre zu zeigen. „Wir haben sie den verendeten Kühen notdürftig abgezogen, um zumindest irgendeinen Nutzen aus den Kadavern zu ziehen. Aber sie sind minderwertig und lassen sich nicht verkaufen.“Die noch lebenden Tiere
würden kein Geld bringen. Zu schwach sind sie für den Weg zum nächsten Markt, falls sie es doch schaffen würden, würde niemand Geld für halb totes Vieh ausgeben. Die vielen Kadaver haben die Wasserstellen in der Nähe verseucht. Die Frauen des Dorfes – Männer machen diese Arbeit nicht – müssen deshalb sieben Kilometer in eine Richtung gehen, um Wasser zu holen – zweimal am Tag.
Normalerweise würden die Nomaden weiterziehen, aber viele sind wegen der Unterernährung zu schwach dafür. Außerdem ist die Situation in anderen Regionen nicht besser: In einem Dorf, eine Autostunde weiter, musste man schon zehn Menschen begraben – es gab einfach nicht genug Essen. Die Verzweiflung ist in der Stimme des fast 80-jährigen Dorfältesten Toti zu hören: „Eine solche Dürre habe ich noch nie erlebt.“Alle drei Monate kommt zwar eine Lieferung mit Lebensmittel, doch das reicht nicht aus.
Für immer mehr Äthiopier werden Grundnahrungsmittel unleistbar. Benzin wird knapp. In der Region Borana sind fast alle Tankstellen geschlossen. Vor einer der wenigen geöffneten warten Hunderte Motorradlenker. Wer nach mehr als eintägiger Wartezeit an die Reihe kommt, erhält eine Fünf-Liter-Ration. Ein Auto kann sich hier niemand leisten, fast alles wird mit den Zweirädern transportiert, nicht selten sitzen vier, fünf Personen auf einer Maschine.
Doch es gibt auch Lichtblicke: Ein Dorf in der Provinz Gemu-Gofa litt bis vor Kurzem stark unter der Dürre und den Heuschrecken, doch heute sind die Kühe sichtbar besser ernährt, die Bewohner optimistisch. Im Rahmen eines Hilfsprogramms bekamen 270 Männer und Frauen die Ausstattung und ein wenig Lohn, um einen verschlammten Teich zu klären. Kommt es nun zu einem der seltenen Regenfälle, füllt sich der Teich mit dem aus dem angrenzenden Gebirge fließendem Wasser und speichert über Monate das lebensspendende Nass, das etwa zum Tränken des Viehs verwendet wird. Von dem Lohn wurden Lebensmittel, Medikamente und Tierfutter gekauft. Die Landwirtschaften des Dorfs kommen wieder in Schwung, auch wenn sie es noch nicht ganz ohne
Unterstützung schaffen. Anders als eine Gemeinschaft am Rande der Stadt Meki: Vor fünf Jahren bekamen 20 Frauen Know-how und Materialien, um eine Spargemeinschaft zu gründen. Zweiwöchentlich wird ein kleiner Betrag eingezahlt. Akribische Buchhaltung, ein Sechs-Augen-Prinzip beim Öffnen der Kassa und verpflichtende Business-Plänehaben sich bewährt. Inzwischen läuft die „Bank“selbstständig, viele kleine Geschäfte konnten so gegründet werden, in Notsituationen gibt es zinsfreie Darlehen.
Angesichts der sich zuspitzenden Lage, mahnt die Caritas, die Katastrophe trotz Teuerungswelle und Ukraine-Krieg nicht zu ignorieren: „Hunger ist ein Skandal, der leise geschieht, den wir gerne überhören und wegleugnen“, so Caritas-Wien-Chef Klaus Schwertner nach einem Lokalaugenschein in den betroffenen Gebieten. Von der österreichischen Politik fordert er ein klares Bekenntnis zu nachhaltiger und planbarer Entwicklungszusammenarbeit und das konsequente Einhalten der bereits versprochen Gelder für die Entwicklungshilfe.