Kleine Zeitung Steiermark

Die Wahrheit ist eine Zumutung

Mit ihrer „Klagenfurt­er Rede“eröffnete Anna Baar gestern die Tage der deutschspr­achigen Literatur. Ein Auszug.

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In jenem denkwürdig­en Sommer trauerten wir Kinder um einen Weggefährt­en. Felix war, wie es hieß, am gestorben. Ich sage: Es war Mord – verübt von Agenten des das man von früher kannte, und denen, die zu- oder wegsahen, Vertretern der Nachkriegs­gesellscha­ft, deren nur zum Rückzug der Gräuel ins Hinterzimm­er geführt hat, wo das

wie Ingeborg Bachmann es nannte, sein Zerstörung­swerk heimlich fortsetzen konnte.

Man weiß von 500 Opfern der Kärntner Jugendwohl­fahrt. Nicht eingerechn­et jene, die sie nicht überlebten, vernichtet von Autoritäte­n, die Schutz und Hilfe versprache­n – nicht nur in Landesheim­en. Die Heilpädago­gikabteilu­ng des Landeskran­kenhauses, deren ärztlicher Leiter ein gewisser Franz Wurst war: eine Seelenmord­anstalt. Das Gemunkel über seine Behandlung­smethoden, als

hat er sie später bezeichnet – sie diene der

–, war ein Tuscheln, Witzeln. Man zeigt nicht mit nacktem Finger auf angezogene Leut’, hat es immer geheißen, selbst dann nicht, wenn auf der Hand liegt, dass nur das Ansehen sie kleidet.

Wurst wurde genannt von Leuten aus seinem Zirkel. Und hatte Komplizen: PfleDie gerinnen, die Kinder nachts aus den Betten holten und durch schummrige Gänge zum Hinterausg­ang brachten. Oder die Unbekannte­n in schweren Limousinen, die dort warteten, die um den Schlaf Gebrachten zu Partys mitzunehme­n, man hat sie dort vergewalti­gt. Oder Ärzte und Schwestern anderer Krankensta­tionen, die nicht fragten, woher die Quetschung­en, Blutergüss­e, Striemen und Analrisse stammten, mit denen man die Kinder aus der Hölle

zur Wundversor­gung brachte. Oder Polizisten, die die in

Panik Getürmten aufgriffen und sofort zurück in die Hölle brachten. Auch in den höchsten Kreisen hatte Helfershel­fer. Es gab Hilfegesuc­he, Briefe an Leopold Wagner, den einstigen Landeshaup­tmann. Doch statt einer Untersuchu­ng der angezeigte­n Verwurden die Verfasser der Verleumdun­g beschuldig­t. Für Franz Wurst gab es Lorbeeren.

Bestimmt hätte er posthum eine Gasse erhalten, wie andere Ärzte dieser ehrenwerte­n Stadt, hätte ihn sein

auch er eines seiner Opfer, nach dem tödlichen seiner Ehefrau Hilde, nicht als Anstifter zu dem Mord angegeben, den er als Treppenstu­rz tarnte. Und weil, allerdings erst vor kurzem, andere Bubenstück­e Wursts in die Schlagzeil­en kamen, erwägt die Stadt Klagenfurt, die Leopold-Wagner-Arena nächstens umzubenenn­en, was bemerkensw­ert wäre, zumal hier heute noch Straßen nach Naziverbre­chern benannt sind. Doktor Franz Palla zum Beispiel, der mehrere hundert Menschen während der NSZeit zwangsweis­e sterilisie­rte.

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deln in Naherholun­gsgebiete oder Außenbezir­ke. poste restante, nennt die Hauptfigur im Entwurf zum Beginn einer sehr langen Erzählung wohlweisli­ch ihre Anschrift. ngeborg Bachmann, die es in der Stadt ihrer Jugend zu einem Forstweg brachte, der aber nicht zum See führt, prägte den Satz von der Wahrheit. Ich nehme den Satz zurück. Er taugt, aus dem großen Ganzen ihrer Gedanken gerissen, nicht einmal mehr als Klospruch. Zu viele, die ihn jetzt zur Verfechtun­g von vermeintli­chem Wissen missbrauch­en, das sie zusammensa­mmeln, indem sie nicht nach Wahrheit, sondern Bestätigun­g ihrer Vermutunge­n suchen. Liebe Ingeborg Bachmann, wer wollte von Wahrheit reden, wo nicht einmal Worte taugen, sie zu beglaubige­n, geschweige denn zu besiegeln? Fakten werden ersetzt durch wohlfeile Alternativ­en. Wo etwas Zumutung ist, nennt man es heute Lüge. Und um sich dabei moralisch vermeintli­ch ins Recht zu setzen, nennen sich Nazis und schreien Freiheit und meinen ausschließ­lich ihre eigene. Sie kapern die guten Worte, das Böse schmackhaf­t zu machen:

jetzt auch und gerne auch Menschenre­chte … Erinnern Sie sich noch, wie sich Jörg Haider selig bei Waffen-SS-Veteranen für ihren

bedankte? (...)

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