Kleine Zeitung Steiermark

Rückzugsmo­ment

Im Koordinate­nsystem von Nähe und Distanz: Warum es so wichtig ist, eine neue Liebe zu verorten.

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Sie raucht an diesem Abend mehr als üblich. „Der Typ, ey“, sagt meine Freundin, „der macht mich echt fertig.“Und ich wundere mich, warum er jetzt „der Typ“heißt, wo er letzte Woche noch einen Namen hatte, gefolgt von schmeichel­haften – wenn auch etwas unkonkrete­n – Adjektiven („toll“, „so süß“, „mega nett“). Der Typ jedenfalls, er meldet sich nicht. „Dabei war es so schön am Wochenende!“, ruft sie mit großen Augen der Verzweiflu­ng. „Wir hingen zusammen rum, haben die vierte Staffel ,Stranger Things‘ weg gesuchtet.“Sie hätten sich die ganze Zeit in den Armen gelegen, er sei „total liebevoll“gewesen.

Seit Tagen reagiert er nicht auf ihre WhatsApp-Nachricht, wann sie sich das nächste Mal sehen. Sie hängt in der Luft, leidet von Stunde zu Stunde härter. Wir erreichen das Stadium der Giftigkeit: Warum sich nicht einfach mal einer benehmen könne, fragt sie. Warum sie nicht einfach mal Glück haben könne, einen Mann treffen, der sich

Mensch!

Vor einigen Wochen hatte meine Freundin nicht ohne Stolz erzählt, wie gut ihr Neuer bei Frauen ankomme. Er sei ziemlich „umtriebig“gewesen die letzten Jahre. Ich muss an einen berühmten Liebesbrie­f denken. „Oh, mein lieber Freund“, schrieb die 17-jährige Manon Balletti im 18. Jahrhunder­t an ihr Objekt der Begierde, „hellen sie diese Zweifel auf, oder ich sterbe“. Und: „Ist es so schwer, sich zu lieben?“Womöglich war die Frage der kleinen Manon aber weniger philosophi­scher Natur und hatte mehr mit dem Adressaten zu tun: Giacomo Casanova hieß er. laubst du, er ist ein Narzisst?“, malt meine Freundin jetzt das Schreckges­penst an die Wand. Das Wort „Ghosting“fällt. Den Neuen hat sie über eine Dating-App kennengele­rnt. „Was ist, wenn er mich anfangs nur umschwärmt hat, um sich nach ein paar sexreichen Wochen in Luft aufzulösen?“, fragt sie bang.

Gverhalte

wie

ein

Doch etwas an der Geschichte wirkt nicht ganz stimmig auf mich. „Hat er nicht von Anfang an gesagt, dass er viel Freiraum brauche?“, frage ich. Sie nickt. „Davon habe ich einfach überhaupt nichts gemerkt“, sagt sie. „Wir haben jede freie Minute miteinande­r verbracht, das ergab sich ganz natürlich.“Umso verletzend­er sei es, dass er sich nun zurückzieh­e. Schon bei den letzten Treffen habe er im Vorfeld rumgeeiert. Sie habe ihn überreden müssen. ielleicht bist jetzt einfach einmal du an der Reihe, ein Zugeständn­is zu machen?“, frage ich. Wenn er wochenlang ihr intensives Nähebedürf­nis befriedigt habe, könne sie ihm doch auch seinen Freiraum gönnen. Einen Moment warten.

Sie schaut mich schuldbewu­sst an. „Wie viele WhatsappNa­chrichten hast du ihm hinterherg­eschickt?“, frage ich. Sie legt seufzend den Kopf in die Hände, ich muss lachen. „Mach doch mal einen Abend dein Handy aus“, schlage ich vor.

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