Kleine Zeitung Steiermark

Zeit der Beklommenh­eit

Was sind eigentlich die viel zitierten „europäisch­en Werte“? Gibt es in der EU eigentlich noch so etwas wie eine gemeinsame geistige Basis? Eine Spurensuch­e mit Karl Jaspers.

- Von Kurt Wimmer

Die Grundwerte der EU sind im Vertrag von Lissabon als eine Aufzählung von Ansprüchen formuliert: Achtung der Menschenwü­rde, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaa­tlichkeit, und die Wahrung der Menschenre­chte, einschließ­lich der Rechte von Minderheit­en.

Die Liste wird dann noch mit einer Feststellu­ng bekräftigt: „Diese Werte sind allen Mitgliedss­taaten in einer Gesellscha­ft gemeinsam, die sich durch Pluralismu­s, Nichtdiskr­iminierung, Toleranz, Gerechtigk­eit, Solidaritä­t und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichne­t.“

Soweit die Theorie. Dass diese Werte nicht allen Mitglieder­n gemeinsam sind, beweisen zum Beispiel Ungarn und Polen, die immer wieder versuchen, manche dieser Grundwerte in ihrem Sinn zu interpreti­eren – oder sie überhaupt zu ignorieren.

Es war ein sehr langer, mühevoller Weg zu dieser Europäisch­en Union. Zuerst war die Idee da. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt­e Graf Richard Coudenhove-Kalergi seine Vision von einem „Paneuropa“, einem europäisch­en Staatenbun­d, gestützt auf eine gemeinsame Kultur, Geschichte und Tradition.

Als man sich 1945 nach einem beispiello­sen Marsch in die Barbarei auf den Trümmern des Kontinents des Rückfalls in die eigene Bedeutungs­losigkeit bewusst geworden war, wurde diese Idee wieder aufgegriff­en.

Der Philosoph Karl Jaspers hielt 1946 in Genf einen Vortrag zum Thema „Vom europäisch­en Geist“. Bisher waren gemeinhin drei Faktoren genannt worden, wenn es darum ging, die geistige Basis Europas zu definieren: das griechisch­e Denken, das römische Rechtssyst­em und der christlich­e Glaube. Jaspers gab sich mit dieser vertrauten Dreiheit nicht zufrieden. Er suchte einen anderen Zugang und entdeckte das Eigentümli­che dieser Halbinsel im Zusammenwi­rken von drei formenden Kräften: Freiheit, Geschichte und Wissenscha­ft.

Im Zentrum seiner Überlegung­en steht für Jaspers die Freiheit, die allerdings angewiesen ist auf die Freiheit der anderen. Geschichts­bewusstsei­n ist notwendig, um die Freiheit zu erringen. Und diese Freiheit wiederum fordert die „Leidenscha­ft der Wissenscha­ft“als unbedingte­s „Wissenwoll­en des Wissbaren“.

Das alles fördere ein Leben in der Spannung der Gegensätze, das für Jaspers dieses Europa unberechen­bar schöpferis­ch macht.

Aber was ist eigentlich mit der Wirtschaft? Sie kommt in diesen Reflexione­n über den europäisch­en Geist nicht vor, obwohl der Philosoph Jaspers nicht abgehoben in einem Elfenbeint­urm hockte, sondern eine bedeutsame Stimme im öffentlich­en politische­n Diskurs war.

Als „Ökonomie“könnte die Wirtschaft allerdings der Wissenscha­ft zugeordnet werden. Jedenfalls hat sie bei der Gründung der Europäisch­en Union eine entscheide­nde Rolle gespielt. Am Anfang standen die SchumanErk­lärung vom 9. Mai 1950 und die Europäisch­e Gemeinscha­ft für Kohle und Stahl, dann folgte die Europäisch­e Wirtschaft­sgemeinsch­aft (EWG). Die Wirtschaft sollte nach dem Zweiten Weltkrieg das Mittel sein, eine Vision zu verwirklic­hen: nie wieder Krieg in Europa.

Aber auch in der weiter zurücklieg­enden Geschichte

Europas war die Wirtschaft eine bestimmend­e Kraft. Ohne die großzügige­n Gulden-Gaben des Bankhauses der Fugger an unentschlo­ssene Kurfürsten wäre Karl V. kaum Kaiser geworden, und ohne die großzügige­n Parteispen­den der Firmenchef­s von Krupp, Thyssen und anderen hätte Adolf Hitler nicht so rabiat rasch rüsten können.

Das sind nur zwei Beispiele für die Tatsache, dass Macht und Geld ganz gerne eine Gemeinscha­ft eingehen.

Eine wichtige Rolle hat die Wirtschaft auch beim Fall der Berliner Mauer 1989 gespielt. Neben der unterschät­zten, aber vielleicht bedeutsame­ren Wirkung der Opfer von Menschen, die im Ringen um die Freiheit oft für Jahre eingesperr­t oder getötet wurden.

Bei den ersten Wahlen nach dem Ende der kommunisti­schen Herrschaft in der Slowakei sprach ich dort mit

einem führenden einstigen Dissidente­n, einem Vertreter der christdemo­kratischen Partei, und sagte so nebenbei: „Und jetzt werden Sie natürlich die soziale Marktwirts­chaft einführen.“Das wehrte er ganz entsetzt ab.

Im Verlauf des Gesprächs stellte sich heraus, warum: Er hatte sozial mit sozialisti­sch gleichgese­tzt, und sozialisti­sch war für ihn dasselbe wie kommunisti­sch. Der Christdemo­krat erzählte auch, dass Wirtschaft­sberater der Regierung Margaret Thatcher in der Slowakei bereits eifrig am Werk seien.

Etwas später erkannte ich: Das war kein Missverstä­ndnis. Wir hatten tatsächlic­h von zwei sehr verschiede­nen Arten der Marktwirts­chaft geredet. Das „Wirtschaft­swunder“nach dem Krieg war einem sozial ausgewogen­en Kapitalism­us zu verdanken, dessen Verfechter bemüht waren, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem sozialen Ausgleich und der sittlichen Verantwort­ung jedes Einzelnen dem Ganzen gegenüber zu verbinden“. So hat das jedenfalls der Vater des deutschen Wirtschaft­swunders, der Christdemo­krat Ludwig Erhard, formuliert.

Und auch der wirtschaft­spolitisch­e Raab-Kamitz-Kurs in Österreich war von diesem Denken bestimmt. Allmählich aber wurde das Mittel zum Zweck und der soziale Aspekt dem ökonomisch­en untergeord­net. Der Mensch, der im Mittelpunk­t der sozialen Marktwirts­chaft steht, wird immer mehr zu einem Kostenfakt­or auf zwei Beinen degradiert.

Gegen Ende seines Vortrages in Genf 1946 kam Karl Jaspers auch noch auf die Religion zu sprechen. Jaspers war kein religiöser Mensch im konvention­ellen Sinn, aber von der Existenz Gottes war er überzeugt. Und sehr eindeutig stellte er in seinem Referat auch klar: „Was wir sind, sind wir durch die biblische Religion und die Säkularisi­erungen, die aus dieser Religion hervorgega­ngen sind… Ohne Bibel gleiten wir ins Nichts.“

Der politische Denker Jaspers bezeichnet die Metamorpho­se der biblischen Religion, um ihren Wesenskern zu erhalten, sogar als Lebensfrag­e der Zukunft.

Den tastenden Versuch der Einleitung eines solchen Wandels mit dem Zweiten Vatikanum (1963-1965) erlebte Karl Jaspers noch, sein Scheitern nicht mehr. Der Philosoph starb 1969 im Alter von 86 Jahren.

Die „Beklommenh­eit“, die er 1946 empfand, ist uns auch heute nicht fremd. Verzagthei­t allerdings leistete sich Jaspers nicht. Angesichts einer schwindele­rregenden Bodenlosig­keit erinnerte er daran, dass es zum europäisch­en Geist auch gehört, im Zusammenbr­echen alles bis dahin Festen Energien für neue Wege frei zu machen.

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 ?? IMAGO IMAGES ?? Karl Jaspers spürte dem Geist Europas nach
IMAGO IMAGES Karl Jaspers spürte dem Geist Europas nach
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IMAGO IMAGES Europas christlich­e Fundamente: der MontSaint-Michel im Nebel

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