Warum der Rubel jetzt noch rollt
Blendende Leistungsbilanz, starker Rubel: Die Sanktionen scheinen Russlands Wirtschaft nichts anhaben zu können. Doch die eigentlichen Probleme kommen erst noch.
Die Stimmung im Büro sei jetzt betont patriotisch, erzählt Andrei Iwanowitsch (Name von der Redaktion geändert). „Am Eingang hängt ein TV-Monitor, auf dem pausenlos von unseren militärischen Erfolgen in der Ukraine berichtet wird.“Auch die Kollegen redeten optimistisch über Wladimir Putins „Kriegsspezialoperation“in der Ukraine.
„Aber das Geschäft läuft miserabel.“Andrei ist Manager einer Moskauer Handelsfirma, die Technik für Gasanschlüsse verkauft. Es gebe keine Bauund Ersatzteile mehr von Siemens, Bosch oder Hannowell, russische Alternativen seien nur schwer zu beschaffen und funktionierten viel schlechter. „Wir verkaufen jetzt Luft, sagen den Kunden am Telefon, wir hätten gerade nicht alles auf Lager, suchten aber eine Lösung. Und schlagen Lieferzeiten von 120 Tagen vor.“Früher seien es vier Tage gewesen.
Aber die Gaskunden und ihr Bedarf blieben, Andrei überlegt, sich selbstständig zu machen, da könne er flexibler agieren. „Ich war in der Türkei, dort gibt es Hersteller, die halbwegs akzeptable Ersatzteile anbieten. Auch, wenn sie in Garagen produzieren.“
Russland gibt sich nicht geschlagen. Nach vier Monaten Wirtschaftskrieg und allein sechs Sanktionspaketen der EU haben viele Branchen Lieferprobleme. Aber die Rohstoffexportwirtschaft scheint zu funktionieren wie ein russischer Lastwagen: Er rumpelt, wenn es sein muss, auch durchs Unterholz.
Die internationale Krise, die Moskau mit seiner „Kriegsspezialoperation“gegen die Ukraine produzierte, jagte ihrerseits die Rohstoffpreise in die Höhe, ein Barrel Öl der Marke Brent kostet jetzt 116 Dollar. Auch wenn die Russen ihr Öl wegen der Sanktionen 30 bis 50 Dollar billiger anbieten, prophezeit die Agentur Bloomberg dem Land für 2022 Brennstoffexporteinnahmen von 285 Milliarden Dollar, etwa 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Da gleichzeitig die Importe eingebrochen sind, verzeichnete Russland in den ersten vier Monaten 2022 einen Leistungsbilanzüberschuss von 106,5 Milliarden Dollar. Der wiederum puscht den Rubel, er steigt trotz aller Finanzsanktionen seit Monaten. Kostete ein Euro am 23. Februar 90,30 Rubel, so waren es gestern nur noch 54,64 Rubel. Der Rubel, im Volksmund auch als „hölzern“verspottet, ist von der Agentur Reuters zur „stärksten Währung der Welt“erklärt worden.
Aber sein neues Gewicht liegt den Exporteuren schwer auf den Schultern, die Rubelproduktionskosten fressen immer größere Teile ihrer Fremdwährungsgewinne. Und es drückt auf die Steuereinnahmen, die der Staat von ihnen kassiert.
Finanzminister Anton Siluanow klagte kürzlich, die Stärkung der vaterländischen Währung um einen Rubel im Vergleich zum Dollar koste dem Jahresetat Russlands bis zu umgerechnet 3,6 Milliarden Euro. nd viele trauen dem Rubel nicht. An der Moskauer Börse war der Euro gestern 54,30 Rubel wert, in manchen Wechselstuben bekam man 64 Rubel für ihn. Und im Metropolis, einem der schicksten Moskauer Einkaufszentren, werden deutsche Herrensocken, die laut Preisschild einmal zwölf Euro kosteten, für
U
1800 Rubel verkauft, ein Wechselkurs von 150 Rubel pro Euro.
Die Russen bewegen sich in einer neuen Wirtschaftswelt, die sich äußerlich nur wenig geändert hat. Im Metropolis sind etwa 20 Prozent der teuren Markenläden geschlossen. Auch auf der Mjasnizkaja im Stadtzentrum haben das Caféhaus Chleb Nasuschnij oder das kleine Souvenir-Geschäft daneben ihre Firmenschilder abmontiert. Aber Konsumrussland kollabiert nicht, auf der Mjasnizkaja prangt hoffnungsvoll eine weiße Nixe auf karmesinrotem Sperrholz, hier eröffnet demnächst das Fischrestaurant Kaspijka.
Und McDonald’s hat wieder aufgemacht, mit demselben Menü wie vorher, aber in russischem Besitz und mit dem et
schrägen Namen „Schmeckt und Punkt“. Die Staatsmedien berichteten groß, als wäre die Erledigung der Sanktionen reine Formsache. Patriotismus ist Mode, die vier Prozent Arbeitslosigkeit, die das staatliche Statistikamt für Mai verkündete, werden als Beleg für Russlands Krisenresistenz gedeutet. ber sie werden inzwischen von ganz anderen Zahlen infrage gestellt. Gerade erst wurde bekannt, dass die vaterländische PkwProduktion im Mai auf 3,3 Prozent des Absatzes im Vorjahresmai abgestürzt ist. Große ausländische Hersteller wie VW oder Renault haben das Land verlassen, aber auch russische Fließbänder stehen ohne westliche Bauteile still. Mangels
ANachschub fürchten auch die Agrarbetriebe vor allem defekte Kugellager und Hydrauliksysteme an ihren Großtraktoren, aber ebenso den Zusammenbruch ihrer ausländischen Computerprogramme.
Russland droht eine neue Mangelwirtschaft, in der fehlende Präzisionsbauteile durch Improvisation, Imitate oder einfach Pfusch ersetzt werden. Putin hat darauf reagiert und ein neues Gesetz unterschrieben, das den „parallelen Import“legalisiert, also Einfuhren sanktionierter Güter ohne Genehmigung des Herstellers. Es geht zunächst um teure PkwMarken, Smartphones, aber auch um verbotene Ausrüstung für die Öl- und Gasförderung oder um Lokomotiven. Sie sollen künftig über Zwischenhändwas ler, etwa in Kasachstan oder Aserbaidschan, nach Russland gelangen.
Nach einer Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts FOM glauben 60 Prozent der russischen Kleinunternehmer, die Wirtschaftslage habe sich verschlechtert, aber 65 Prozent sind überzeugt, der Sanktionskrieg werde die russische Wirtschaft nicht vernichten. „Es werden keine hundert verschiedenen Kühlschränke mehr zum Kauf stehen, weniger teure Westautos herumfahren“, prophezeit Iwan Rodionow, Finanzexperte der Moskauer Hochschule für Wirtschaft. „Aber selbst wenn sich der Lebensstandard halbiert, gibt es keinen Aufstand.“Allerdings erwartet Rodionow auch, dass der Feldzug in der Ukraine im Herbst halbwegs erfolgreich beendet sein wird. ie Zentralbank erwartet 17 Prozent Jahresinflation, Tendenz fallend. Aber der Sankt Petersburger Viktor erzählt, er habe nach vier Monaten im Ausland dieselbe Pizza bestellt wie vor seiner Abreise. „Im März kostete sie 1200 Rubel, jetzt 2200 Rubel.“Viktor ist Programmierer, er will seine Heimat Russland sowieso wieder verlassen.
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