„Müssen Barrieren im Kopf abbauen“
Trotz angespannter Lage am Arbeitsmarkt werden die Talente und Fähigkeiten von Menschen mit Behinderung häufig übersehen und nicht genutzt. Eine Initiative will das ändern und verweist auf Best-Practice-Beispiele.
Die Messlatte liegt hoch: 60 Prozent der Mitarbeiter eines Distributionslagers von Walgreens, der zweitgrößten Apothekenkette in den Vereinigten Staaten, haben eine psychische und/ oder physische Beeinträchtigung. Darunter sind Autisten, Rollstuhlfahrer,
Menschen mit Multipler Sklerose oder verschiedenen schweren intellektuellen Schwächen. Walgreens gilt aufgrund derartiger
Projekte als Pionier inklusiver Beschäftigungsmodelle im Logistikbereich – und als Vorbild im Rahmen des „Zero Project“der Essl Foundation.
Die Stiftung der ehemaligen Baumax-Eigentümerfamilie widmet sich unter anderem dem Abbau von Barrieren für Menschen mit Behinderung im Bereich Bildung und Beschäftigung und fördert Initiativen für ein selbstbestimmtes Leben und politische Teilhabe dieser
Bevölkerungsgruppe. Klein ist sie nicht. Jeder siebte Mensch lebt mit einer Behinderung. Weltweit sind es damit über eine Milliarde Menschen, allein in Österreich über 1,2 Millionen. Jeder dritte Haushalt ist von Behinderung betroffen, rechnet Martin Essl vor.
in den Arbeitsmarkt funktioniert aber nur schlecht. Drei Viertel der österreichischen Unternehmen weichen der gesetzlichen Einstellungspflicht nämlich (legal) aus und zahlen eine Ausgleichstaxe, statt die Talente und das Potenzial dieser Menschen zu nutzen. Essl will das mit seiner Stiftung ändern, holt regelmäßig Unternehmen vor den Vorhang, in denen Inklusion gelebt wird, und vernetzt interessierte Betriebe mit Sozialorganisationen und Förderinstitutionen.
„Behinderung – na und?“, pflegt er diesbezüglich einen
aus Ungeduld und Unverständnis für ein Ungenutztlassen dieses Potenzials: „Man setzt die Mitarbeiter ja nicht dort ein, wo sie ihre Schwächen haben, sondern nutzt ihre besonderen Begabungen.“
Zotter.
Wie Josef und Julia Der Gründer und Inhaber der bekannten Schokoladen-Manufaktur und seine Tochter haben in ihrem Unternehmen sechs Mitarbeiter mit Beeinträchtigung beschäftigt. „Sie sorgen im gesamten
Team für höhere Motivation, die allgemeine Zufriedenheit und Leistung steigt und es bringt einen auch selbst weiter“, berichten die Zotters zufrieden aus ihrem Betriebsalltag. So vertraut man im Büro auf die akribischen Rechtschreibfehlersuchqualitäten eines Autisten, der noch dazu Barcodes auf Produkten lesen und vergleichen kann. „Es geht darum,
Barrieren im Kopf abzubauen und um einen fairen Umgang von den Rohstoffen bis zu den Mitarbeitern und eine Maximierung der Menschlichkeit“, sagt Josef Zotter.
Auch beim E-CommerceSpezialisten Niceshops setzt man aus Überzeugung auf Inklusion. 19 der 540 Mitarbeiter haben eine Beeinträchtigung. Die meisten davon arbeiten in der Logistik des rasant wachsenden Unternehmens – 2010 hat Roland Fink auf sieben Quadratmeter im Keller eines Einfamilienhauses begonnen, heute betreibt man 35.000 Quadratmeter Lagerfläche und verschickt bis zu 20.000 Pakete pro Tag.
„Es wird hingeschaut, nicht weggeschaut, es braucht den Augen- und Blickkontakt, was zu sehr intensiven BeMix gegnungen führt“, beschreibt Logistik-Leiterin Conny Lukas die Veränderung im Arbeitsalltag: „Es ist eine Lebensschule für alle.“
Es brauche Fingerspitzengefühl, um die besonderen Begabungen des Einzelnen zu finden und zu wissen, wo man diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter richtig einsetzt, weil die Belastungsspanne zwischen Fordern, Fördern und Überfordern sehr klein bis nicht vorhanden sei, erklärt Lukas. Ist dieser Schritt gelungen, wird es zu einer „echten Bereicherung für alle“, sagt sie. Bei der Bezahlung gibt es keinen Unterschied zu „normalen“Kollegen, der Kontakt zu den Familien ist intensiv. Diese Form der Wertschätzung sei wichtig, betont Lukas.
Es brauche zwar einen angepassten Bewerbungsmodus und ein längeres Onboarding, „es zahlt sich aber aus“, ist auch Essl überzeugt.