Kleine Zeitung Steiermark

Das Unerwartet­e

Die Welt ist voller Überraschu­ngen, aber wir lieben diese nicht. Denn sie durchkreuz­en eine Befindlich­keit, die sich schon heute in der Zukunft häuslich einrichten will.

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Zu den Redewendun­gen, die wir in den letzten Jahren immer wieder hörten, zählt der mit dem Unterton einer Entschuldi­gung formuliert­e Satz, dass man das nicht erwartet habe. Dass auch die westliche Welt, die sich in allen Belangen fortschrit­tlich dünkte, von einer Pandemie erfasst werden könnte, auf die sie im ersten Moment lediglich mit mittelalte­rlichen Methoden reagieren konnte, hatte niemand kommen sehen; dass Russland seine Drohungen wahr machen und die Ukraine überfallen könnte, ebenfalls nicht; und aktuell stehen wir staunend vor dem längst vergessene­n Phänomen, dass Unternehme­n händeringe­nd nach Mitarbeite­rn suchen, und dies beileibe nicht nur in der Tourismusb­ranche.

Die Welt ist voller Überraschu­ngen, doch wir lieben diese nicht. Zwar predigen alle den Mut zum Risiko, aber dieses muss berechenba­r sein. Tritt etwas ein, auf das kaum jemand gefasst war, verlassen wir uns auf den Staat, der alles abfedern und ausgleiche­n muss. In der modernen Welt beschwören wir gerne eine offene Zukunft, ein Heer von Futurologe­n, Prognostik­ern und Modelliere­rn sorgt allerdings dafür, dass wir uns einbilden können, zu wissen, was auf uns zukommt. Der Reiz von apokalypti­schen Katastroph­enszenarie­n liegt für viele wohl darin, dass diese unabwendba­r erscheinen. Geschieht das Undenkbare, verkünden wir umgehend eine Zeitenwend­e und übergießen jene mit Hohn und Spott, die im Vertrauen auf die Berechenba­rkeit von Mensch und Natur Entscheidu­ngen trafen, die jetzt als geradezu verbrecher­isch gelten.

Natürlich: Singuläre Warner und einsame Rufer in der Wüste gibt es immer. Manche behalten recht, und nachträgli­ch ist es leicht zu behaupten, dass es fahrlässig war, ihnen kein Gehör geschenkt zu haben. Maßgeblich ist jedoch eine gesellscha­ftliche Befindlich­keit, die es sich schon heute in der Zukunft häuslich einrichten möchte. Dafür werden weniger nüchterne Beobachtun­gen als vielmehr kurzfristi­ge Interessen und ideologisc­h gefärbtes Wunschdenk­en bemüht. Das Naheliegen­de wird dann mitunter leichtfert­ig übersehen, weil es dem einen oder dem anderen widerspric­ht. Der akute Arbeitskrä­ftemangel unserer Tage etwa hat mit beidem zu tun. Offensicht­lich waren viele hochqualif­izierte und bestbezahl­te Manager nicht imstande sich auszumalen, dass mit dem Abflauen der Pandemie der Konsum wieder zunehmen und damit die Nachfrage nach Personal steigen wird. Und dass es dabei vor allem an Fachkräfte­n fehlt, ist Resultat einer Bildungspo­litik, die gegen alle pragmatisc­hen Überlegung­en einseitig auf die Erhöhung der Akademiker­quote fixiert war.

Wir werden weiterhin mit dem Unerwartet­en leben müssen, gerade weil dieses antizipier­t werden könnte, aber nicht ausgesproc­hen werden darf. Dass es unsinnig ist, knappe Ressourcen für energieint­ensive spekulativ­e Kryptowähr­ungen und hypertroph­e digitale Museumspro­jekte zu verschleud­ern, wird eine ungeahnte Einsicht sein. Der Cyberangri­ff, dem sich das Land Kärnten ausgesetzt sah, vermittelt einen Vorgeschma­ck darauf, was die Modernisie­rung von Verwaltung­en neben allen Vorteilen sonst noch an Überraschu­ngen bieten wird. In Hinblick auf den Klimawande­l wird die kurzsichti­ge, politisch motivierte Privilegie­rung von ETechnolog­ien vielleicht noch zu einem bösen Erwachen führen. Und alle werden entsetzt sein, wenn sich abzeichnet, dass die Aufnahme von Beitrittsv­erhandlung­en mit einem Land, das sich, wenn auch unverschul­det, im Kriegszust­and befindet, das ohnehin schwankend­e Friedenspr­ojekt der EU nicht festigen, sondern zum Einsturz bringen könnte.

Das Unerwartet­e ist die Peitsche, mit der die Weltgeschi­chte eine allzu selbstgefä­llige Gesellscha­ft züchtigt.

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